Brünn: Das Löschblatt und die Schaumrolle

Begegnung mit Benetton, Janáček, luftgetrockneten Mumien: Brünn, ein Stadtporträt.


Mähren beginnt in Stadlau. Ungefähr. Wir haben noch kaum die Donau überquert, da wird über Lautsprecher schon die Zoll- und Passkontrolle angekündigt. Während der „Eurocity Anonín Dvořák“ am alten Stadlauer Bahnhof vorbeirattert, öffnet ein rundlicher Uniformträger die Tür des Zugabteils, erkundigt sich bei jedem Passagier in gebrochenem Deutsch, ob er etwas zu verzollen habe, quittiert das allgemeine Kopfschütteln mit einem freundlichen „Gut“ und weist noch darauf hin, dass in Kürze auch die Kollegen von der Passkontrolle vorbeikämen.

Und ein paar Meter hinter dem Rinterzelt befindet sich in unser aller Pässe schon der Vermerk des Grenzübertritts bei Břeclav. Den Rest der rund 70 inneröstereichischen Bahnkilometer legt der Zug quasi auf exterritorialem Gebiet zurück; ein schmaler Streifen rollendes Niemandsland auf dem Weg zum „Paris von Mähren“, zur „Stadt Janáčeks und Mendels“ und was es sonst noch an Reiseführer-Reverenzen gibt.

Kurzum: nach Brünn. Oder Brno, wie die Tschechen heute sagen. Oder bryn, wie die alten Kelten gesagt haben mögen, falls wirklich ein Hügel (keltisch: bryn) der Stadt ihren Namen gegeben hat. Und nicht, wie andere behaupten, Kot, Lehm und Moor (altslawisch: brnije) am Zusammenfluss von Svitava und Svratka.

Brünn heute: die zweitgrößte Stadt der tschechischen Republik. Doch die Einwohnerzahl (rund 400.000) täuscht: Im Verhältnis zu den gigantischen Satellitenstädten, die ins Brünner Umland hinauswabern, wirkt der historische Kern bescheiden. Ein Zwergenherz im künstlich aufgeblähten Körper eines Riesen des industriellen Zeitalters. Kein Wunder, dass der urbane Puls ein wenig schwächlich schlägt. Ein. „You can’t beat the feeling“ allein, vis-á-vis vom Bahnhof in bunten Lettern auf eine Feuermauer gemalt, macht noch keine Weltstadt.

Coca-Cola, Camel und Malboro, Humanic und Niedermeyer, Benetton und Palmers sind allenfalls bunte Konsumtüpfelchen auf dem einheitsgrauen Ostblock-Zwillich. Noch immer ist den meisten Brünner Auslagen der herbe Charme planwirtschaftlicher Wurstigkeit eigen. Noch immer liegen nie entfernter Staub und Ruß realsozialistischer Jahrzehnte wie ein schmieriger Schleier über der Stadt. Und noch immer „gewährt“ das Hotel, in dem ich abgestiegen bin, seinen Gästen Dienstleistungen – und zwar nur „im Umfang der zuständigen Fachbereichsnorm in der festgelegten Klasse“; das tägliche Zimmeraufräumen ist in der Fachbereichsnorm offenkundig nicht vorgesehen.

Die Wirklichkeit jenseits solcher touristischer Erfahrungen lässt sich nur erahnen. Beispielsweise wenn Ludek, Redakteur einer privaten Radiostation, von seinen Auseinandersetzungen mit Politikern berichtet, die einfach noch nicht daran gewöhnt sind, öffentlich kritisiert zu werden. Oder wenn die Lehrerin Jana von den kaum vorstellbaren Preissteigerungen erzählt, die – bei gleichbleibenden Löhnen – die meisten dazu zwingen, neben ihrem eigentlichen Beruf Zweit- und Drittjobs anzunehmen. Dieselben Preise lassen Einkaufstouristen aus dem Westen nach wie vor in hektischen Konsumrausch verfallen – weil alles gar so billig ist. Jeder Wiener Durchschnittsverdiener wird durch eine Reise nach Norden zum Krösus; sein Brünner Kollege, den es in die Gegenrichtung zieht, zum Sozialfall.

Erinnerungen an einen Mähren-Besuch im Dezember 1989 werden wach. Erinnerungen an ein Häuflein verschreckt durch ein ausgestorbenes Znaim irrender Österreicher, die die erste Gelegenheit zur Einreise ohne Visum genutzt haben. Erinnerungen an rotweißblaue Flaggen und Havel-Bilder in Znaimer Fenstern – und an Znaimer Bürger, die zur gleichen Zeit im nahen Retz die Ersparnisse vieler Jahre in Bananen, Kaffee und Waschmittel angelegt haben.

Inzwischen sind es im Gegenzug österreichische Familien, die ihrerseits den Handel in der Grenzregion beleben: indem sie in tschechischen Kaufhäusern um einen Betrag, der dem wöchentlichen Taschengeld von Klein-Franzi entspricht, ihren Jahresbedarf an Mehl und Zucker decken. Wer bis nach Brünn reist, hat freilich meist Spezielleres im Sinn: Bücher, Textilien, Compact Discs.

Oder einen Opernbesuch. 8. Reihe Parkett im „Janácek Theater“ um umgerechnet 20 Schilling – das ist Oper im Sonderangebot. Solange der Subventionsvorrat reicht. Und der Vorrat an Sängern und Musikern, die ihr Glück nicht im vorgeblich goldenen Westen suchen wollen – oder können. Einer, der wollte und konnte, war einst Leo Slezak: Seine Weltkarriere begann er als Statist am Stadttheater Brünn. Seither sind allerdings mehr als hundert Jahre vergangen; die Dynastie, die damals herrschte, tritt uns derzeit in Gestalt eines Vorabendquiz-Onkels entgegen, und das vormalige „Stadttheater“, ein Bau aus der Bühnenfließbandproduktion der Herren Fellner und Helmer, heißt inzwischen „Mahenovo Divadlo“ und ist dem Sprechtheater vorbehalten.

Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war, / vor fünfzig Jahr‘, vor fünfzig Jahr‘, / hat sich mein Vater g’holt aus Brünn / a echte Wienerin. Brünn einst: gleichsam eine Vorstadt Wiens. 149 Bahnkilometer nah. Und heute? 149 Bahnkilometer fern.

Nicht mehr so fern wie noch vor fünf, sechs Jahren. Aber noch immer fern. Die Achse Wien-Brünn: eine sagenumwobene witschaftliche und kulturelle Verbindung vergangener Tage, die abrupt im Jahr 1918 zu enden scheint. Wer kennt denn hierzulande schon die Schule des Brünner Funktionalismus der Zwanziger- und Dreißigerjahre, wer kennt Architekten wie Jan Vísek, Jindrich Blum, Buhuslav Fuchs und Arnost Wiesner – sieht man von einer Schar handverlesener Spezialisten ab? Wer denkt, wenn er an Brünn denkt, an Ludwig Mies van der Rohes Villa Tugendhat? Und wer denkt nicht an die Habsburgermonarchie?

Freilich: Ein Besuch der Kasematten auf dem Spielberg heilt rasch von eventuell aufkeimender k.-u.-k.-Nostalgie. Ein Besuch in jenen düsteren Schutzräumen der Spielberg-Festung, die im Zuge der josephinischen Gefängnisreform in eine Haftanstalt für Schwerverbrecher umgewidmet wurden. Durch lange dunkle Gänge führt der Weg. Vorbei an Rekonstruktionen jener kleinen Holzverschläge, in denen zu lebenslanger Haft Verurteilte, in völliger Dunkelheit angeschmiedet, bei Wasser und Brot ihres Endes harrten. Gequält von Husten, Atembeschwerden, Durchfällen, Geschwüren an Gliedmaßen, im Gesicht und am Unterleib. Eine Todesstrafe auf Raten. Länger als zwei Jahre hat sie kaum einer überlebt. Hoch darüber, vom Festungsgraben aus sichtbar: die ehemalige Soldatenunterkunft, die im 19. Jahrhundert zum berüchtigten „Kerker der Nationen“ avancierte – und auch noch den Nazis als Konzentrationslager für tschechische Widerstandskämpfer diente.

Im Graben selbst: die Grundmauern jenes Gebäudes, in dem die lebenslange Haft des Abenteurers Franz Freiherr von der Trenck 1749 nach kaum drei Jahren endete. Heute ist das, was vom wilden Pandurenoberst blieb, in der Brünner Kapuzinergruft zu besichtigen. Die kann zwar nicht mit gekrönten Häuptern in opulenten Zinnsärgen aufwarten, dafür aber mit etlichen gut luftgetrockneten Mumien Brünner Lokalgrößen.

Die beiden mehr oder minder in deutscher Sprache verfassten Stadtführer haben noch mehrere Besuchstipps dieser Art parat: Gelegenheiten für kleine, oftmals beklemmende, dann wieder kuriose Zeitreisen in die Geschichte. Die krumme Fiale am gotischen Portal des alten Rathauses, mit der Meister Anton Pilgram den Geiz der Ratsherren angeprangert haben soll. Das Krokodil, das gleich in der dahinterliegenden Toreinfahrt von der Decke baumelt – vermutlich ein Geschenk, das König Matthias 1608 von einer türkischen Gesandtschaft bekam und kurzerhand der Stadt Brünn überließ. Das Kaufhaus „Centrum“ aus den Zwanzigerjahren, das eigentlich ein Wolkenkratzer mit 23 Stockwerken hätte werden sollen – und das dann doch nur bis zur siebenten Etage wachsen durfte, denn die Anrainer fürchteten, ihre Häuser würden durch den Riesenbau zu sehr beschattet.

Von der Brünner Gegenwart wird man ohnehin auf Straßen und Plätzen rasch wieder eingeholt. Etwa wenn an einer Straßenecke zwei stämmige Herren in schwarzen Lederjacken eine Gruppe von Glücksspielern auseinanderscheuchen. Das seien wohl „schwarze Soldaten“ gewesen, meint die Lehrerin Jana später, Mitglieder einer jener privaten Schutzorganisationen, die derzeit nicht nur in Brünn florieren; denn der regulären Polizei vertraut niemand mehr.

Auch Janas Bruder arbeitet als „schwarzer Soldat“: „Ein guter Nebenverdienst für junge Männer“, meint sie. Mit Militarismus, Law-and-Order-Mentalität oder Rechtsradikalismus habe das nichts zu tun. Auch nationalistische Spannungen gäbe es in Brünn kaum. Sieht man von den beständigen Auseinandersetzungen mit den Zigeunern ab. Die ganze Sache mit der Trennung, die sei – „auf halbem Wege zwischen Prag und der Slowakei“ – halb so schlimm. Nur das Gefühl, in der Slowakei plötzlich selber „Ausländer“ zu sein, das will Jana nicht so recht in den Sinn: „Manche ausländische Freunde fragen mich, ob jetzt auch bei uns solche Zustände entstehen werden wie auf dem Balkan. Aber ich denke: Der Schwejk schießt nicht so schnell.“ Mag sein. Aber sind es junge Schweijks, die da auf dem Tisch mitten im Zentrum der Stadt Kampfanzüge und anderes soldatisches Zubehör feilbieten?

Die Straße als Kaufhaus. Immer wieder stößt man auf kleine Ansammlungen klappriger Marktstände, in denen ein buntes Durcheinander aus Spülmitteln, Kaffee, Jeans und Spielzeug umgesetzt wird. Jeder sein eigener Unternehmer: eine Art Bauchladenkapitalismus mit Dach über dem Kopf. Auf der Rampe eines monumentalen Amtsgebäudes offerieren zwei betagte Damen Schaumrollen und Strohblumen. Ein paar Schritte weiter hockt im dichten Strom der Passanten eine dick eingemummte Frau hinter einem kleinen Handwagen voller Illustrierter. Ihre ganz private rollende Trafik.

Vor der Infomationsstelle im Alten Rathaus lauert ein älterer Herr auf auskunftheischende Touristen und bietet Ansichtskarten an: „Neun Stück um nur 20 Kronen.“ Wenig später halte ich neun „Römisch-Katholische Kirchen in Brünn“ – offizieller Preis: 13 Kronen – in Händen: den mächtig über der Stadt thronenden St.-Peter-und-Pauls-Dom, die gotische St.-Jakobs-Kirche, die Maria-Himmelfahrt-Kirche nebst Augustiner-Kloster, in dem Johann Gregor Mendel die Vererbungsgesetze entdeckt hat – jeweils garniert mit Autos der Marken Škoda und Trabant. Erinnerungsstücke aus der Vergangenheit.

Und doch noch Brünner Gegenwart. Wie die langen Reihen Wartender vor den Supermärkten, die geduldig eines freiwerdenden Einkaufswagens harren. Wie das Löschblatt in dem Heftchen, das ich in einem düsteren Einkaufszentrum erstanden habe. Wie Packpapier und Schnur, mit denen flinke Verkäuferhände meine Bücher einwickeln.

Eine Reminiszenz an die Zeit vor der Plastiksackerl-Kultur. Anzeichen für Stagnation? Oder für ausgeprägtes Beharrungsvermögen?

Disparate Eindrücke bleiben zurück. Ein Besuch in Brünn als Begegnung mit einer unbekannten Altbekannten, Begegnung mit einer Stadt, die erst allmählich aus dem Koma vergangener Jahrzehnte zu erwachen scheint. Immer schön langsam. Wienerisch gesagt: „pomali“. Ein lautmalerisches Wort. Dem Tschechischen entlehnt.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 13. März 1993

Weitere Artikel