Asyl: Bis keiner mehr kommt

November 1993: 398 Asylanträge ereilen österreichische Behörden. Was mit ihnen danach geschehen ist, analysiert eine Studie des UNO-Flüchtlingshochkommissariats, UNHCR.


Spätestens seit Franz Kafka wissen wir es: „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.“ Und was tut so ein Türhüter den lieben langen Tag? Er hütet die Tür, auf dass niemand zum Gesetz vordringe. Denn eigentlich – folgt man Kafka – steht die Tür zum Gesetz weit offen, und gäbe es keinen Türhüter, könnte doch jeder zu einem, seinem Recht gelangen. Also braucht man Türhüter. Und Österreich hat die vielleicht besten Türhüter der Welt. Türhüter, die nicht nur die Tür zum Gesetz, sondern auch die Tür nach Österreich hüten. Streng. Unerbittlich. Unüberwindlich.

Das hat sich herumgesprochen. Auch im Ausland. Auch bei Flüchtlingen. In den vergangenen vier Jahren ist die Zahl der Asylanträge von rund 27.000 (1991) auf rund 5000 (1994) zurückgegangen. Manfred Matzka, Leiter der für Flüchtlingsfragen zuständigen Sektion des Innenministeriums, weiß, warum: „Wir haben klargemacht, dass aussichtslose Asylanträge zu nichts führen.“ Aber welcher Asylantrag ist schon aussichtsvoll?

November 1993. Der Vizebürgermeister der Stadt Klagenfurt, Reinhart Gaugg, buchstabiert laut „Kärntner Tageszeitung“ das Wort „Nazi“ mit „neu, attraktiv, zielstrebig und ideenreich“. Nach einer in Linz veröffentlichten Studie stimmen 49 Prozent der oberösterreichischen Lehrlinge dem Slogan „Ausländer raus“ zu. Der Salzburger Völkerrechtsexperte Michael Geistlinger kritisiert, dass die mündliche Weisung als „beherrschendes Instrument ausufernder Willkür im Vollzug der Ausländergesetze“ vorherrsche. Ulrike Mayrhofer, Leiterin des Bundesasylamts, ist mit dem „Status“, auf dem sich ihre Behörde befindet, „recht zufrieden“.

November 1993. 398 Asylanträge ereilen die Türhüter des österreichischen Asylgesetzes: 89 Asylwerber stammen aus Bosnien-Herzegowina, 72 aus dem Irak, 24 aus Indien, 20 aus Rest-Jugoslawien, 17 aus Mazedonien, je 16 aus der Türkei und aus Bangladesch, die übrigen aus dem Rest der Welt. Mehr als ein Viertel von ihnen ist minderjährig, mehr als zwei Drittel sind männlichen Geschlechts. Den Behördenweg, den sie danach gegangen sind, hat das Flüchtlingshochkommissariat der UNO, UNHCR, verfolgt. Ergebnis ist eine Anfang dieser Woche vorgelegte Studie, „Flüchtlingsalltag in Österreich“, die manches über Rechtstraum und Rechtswirklichkeit, sehr viel über österreichische Gesetzestürhüter erzählt.

Aus der Aussage eines bosnischen Asylwerbers kroatischer Nationalität: „Ich kann nicht mehr in Bosnien leben. Die Tschetniks kamen, und wir mussten fliehen. Sieben Monate lang war unsere Stadt umzingelt, dann nahm die serbische Armee die Stadt ein. Wer fliehen konnte, hatte Glück, denn die Zurückgebliebenen wurden umgebracht.“ Aus der Beurteilung des Bundesasylamts: „Es ist eine amtsbekannte Tatsache, dass es im Zuge von kriegerischen Handlungen immer wieder zu tiefgreifenden Meschenrechtsverletzungen kommt. Daraus allein ist jedoch keine individuell konkret gegen Ihre Person gerichtete Verfolgungsmotivation des Staates, nämlich aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe, ableitbar. Hätte man tatsächlich ein gravierendes Interesse an einer Verfolgung Ihrer Person i. S. der Genfer Flüchtlingskonvention gehabt, so hätte man seitens der Behörde Ihres Heimatlandes wohl andere, konkret nur gegen Ihre Person gerichtete Verfolgungshandlungen gesetzt.“

Aus der Aussage eines Asylwerbers aus Zaire: „Am 16. 2. 1992 gab es in der Hauptstadt einen Marsch der Christen zum Stadion. Wir hatten Kerzen in einer Hand, die Bibel in der anderen. Ziel dieser Veranstaltung war es, Mobutu zur Machtaufgabe zu bewegen. Der Marsch endete in einem Blutbad, mit Verhaftungen. Auch ich wurde verhaftet. Bei der Einlieferung wurde ich mit Waffen geschlagen. Ich wurde komplett nackt in eine kahle Zelle ohne Bett gebracht. Es wurde mir nie gesagt, was mit mir in Zukunft passieren wird. Ich blieb in diesem Gefängnis bis zu meiner Flucht am 24. 10. 1993.“ Aus der Beurteilung des Bundesasylamts: „Es ist bekannt, dass Präsident Mobutu mit aller Härte gegen alle Personen vorgeht, die sich oppositionell arrangieren. Sie wurden als Demonstrationsteilnehmer festgenommen. Mit solchen Maßnahmen ist gegebenenfalls auch in Demokratien westlicher Prägung zu rechnen und werden solche Staatshandlungen auch von der Rechtsordnung nicht nur gedeckt, sondern sogar gefordert.“

Zwei Beispiele, die überzeugen: Hier wird ganze Arbeit geleistet. Und Ulrike Mayrhofer kann auf die Damen und Herren ihres Bundesasylamts wirklich stolz sein: Nicht nur dass sie über ein erstaunliches zeitgeschichtliches Wissen verfügen und nicht zu bescheiden sind, dieses in ihre Beurteilungen einfließen zu lassen – sie versagen es sich auch nicht, wo es not tut, klarzustellen, was Recht und Ordnung heißt. Wo es eine „amtsbekannte Tatsache“ ist, „dass es im Zuge von kriegerischen Handlungen immer wieder zu tiefgreifenden Meschenrechtsverletzungen kommt“, da darf man mit Recht Kennerschaft vermuten; und dass die Teilnahme an einer Demonstration „auch in Demokratien westlicher Prägung“ mehrmonatige Einzelhaft nach sich ziehen kann, mag zwar mancherorts überraschen, kann aber durchaus als visionäres Zukunftsszenario gelten: die Türhüter als Vordenker eines politischen Systems, das sich anschickt, die fraglos allzu großen Freiräume, die sich in der jüngeren Vergangenheit geöffnet haben, wieder gesundzuschrumpfen – vielleicht auf ein dem „gesunden Volksempfinden“ entsprechendes Maß?

Doch nicht nur die Qualität der getroffenen Beurteilungen raubt selbst Kennern der Materie schier den Atem, auch die Geschwindigkeit, mit der die Türhüter ihre Akten vom Schreibtisch ins Fach „Erledigt“ schaufeln, verdient Bewunderung: Der erste der genannten Fälle war quasi über Nacht amtsabgehandelt, für den Mann aus Zaire bot man nicht mehr als acht Tage auf, um sein Ansinnen abschlägig zu bescheiden. Recht effizient, bedenkt man, welche fraglos aufreibende Recherchearbeit hinter jeder Beurteilung steckt. Und Bundeskanzler Franz Vranitzky kann beruhigt sein: Sein in der Regierungserklärung 1990 geäußerter Wunsch, „das Asylverfahren so zu beschleunigen, dass eine Entscheidung in wenigen Monaten gewährleistet ist“, wurde von der Wirklichkeit längst überholt.

Natürlich wird im Dienste einer möglichst eindrucksvollen Verwaltungsbeschleunigung auch auf Hilfsmittel zurückgegriffen, die die moderne Technik offeriert. Etliche Formulierungen in den Türhüter-Beurteilungen haben System. Computersystem. Sie sind – wie anders ließe es sich erklären – als Textbausteine abrufbar. So erfährt man nicht nur – in der UNHCR-Studie nachzulesen – recht regelmäßig, dass (siehe oben) tiefgreifende Menschenrechtsverletzungen im Zuge von kriegerischen Handlungen eine „amtsbekannte Tatsache“ sind, sondern beispielweise auch, wer im Zweifel recht hat: „Soweit die Ergebnisse des amtswegigen Ermittlungsverfahrens mit Ihrem Vorbringen in Widerspruch stehen, konnte Ihnen keine Glaubwürdigkeit zuerkannt werden.“ So weit der Grundsatz. In concreto, gerichtet an einen Asylwerber aus Zaire: „Sie haben Ihre Heimat auf dem Luftweg verlassen, wobei Sie sich vom 27. 10. 1993 bis 2. 11. 1993 in Johannesburg aufgehalten haben. Die Republik Südafrika ist nicht Mitglied der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Vor willkürlicher Rückschiebung in Ihre Heimat waren Sie aber offensichtlich sicher, zumal der Behörde derartige Vorgänge noch niemals zur Kenntnis gelangten.“ Und kann denn irgendetwas auf diesem Globus sein, was den Türhütern des Bundesasylamts nicht zur Kenntnis gelangt?

Dabei sind sie nur die untersten ihrer Art. Weiter oben folgen jene des Bundesministeriums für Inneres, viel mächtiger noch als sie, kaum zu ertragen – schlag nach bei Kafka – selbst für ihre Kollegen der ersten Asylinstanz. Wenn sie ihre Textbausteine setzen, geht ein Zittern durch das Land: „Bietet ein Zufluchtsstaat von seiner effektiv geltenden Rechtsordnung her einen dem Standard der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechenden Schutz, so ist Sicherheit im Augenblick des Betretens dieses Staates als gegeben anzunehmen und vermag die einmal erlangte Verfolgungssicherheit durch Verstreichen von Zeit nicht zu wachsen, zumal diesem Begriff nichts Graduelles inhäriert, d. h. nur die Disjunktion sicher/unsicher in Rede stehen kann.“ Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie der Asylwerber – selbst wenn, wie zu vermuten, der deutschen Sprache gar nicht mächtig – vor solcher gottgleichen Sprachkraft erst auf die Knie sank und, kaum erhoben, sogleich das Weite suchte.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Trotz der häufigen Verwendung stehender Wendungen verfehlt das österreichische Asylverfahren keineswegs das Ziel, das man sich (laut Ulrike Mayrhofer) etwa mit der Schaffung des Bundesasylamts gesetzt hat – „den Asylwerbern ein individuelles Verfahren zu geben“. So individuell wie die Verfahren fallen auch manche Beurteilungen aus. Man denke etwa an die Asylwerberin aus Zaire, Gattin eines Regimegegners auf der Flucht, die anlässlich einer Hausdurchsuchung vergewaltigt wurde. Das Bundesasylamt beschied ihr, das für sie „zweifellos schreckliche Erlebnis der Vergewaltigung durch drei uniformierte Polizisten“ könne „nicht mit dem Hintergrund politisch bestimmten Organhandelns gesehen werden“: „Gegen ein politisch motiviertes Handeln spricht die Tatsache, dass der vierte Polizist sich nicht an Ihnen vergriffen hatte, ja sogar das Handeln seiner Kollegen nicht nur nicht billigte, sondern sogar unter Berufung auf die Unrechtmäßigkeit der Vorgänge diese von der Tat abzuhalten versuchte.“

Als kleiner Minuspunkt sei hier vermerkt, dass die Behörde es versäumte, eine bestimmte Mindestrelation zwischen vergewaltigenden und nicht vergewaltigenden Polizisten festzulegen, die „politisch bestimmtes Organhandeln“ doch vermuten ließe. Vielleicht fünf zu eins? Sechs zu eins? Oder genügt ein Aufrechter sogar, wenn ein ganzes Regiment über eine Frau herfällt?

Aber das ist nur ein kleiner Makel auf der im Übrigen blütenweißen Weste der Asylgesetz-Türhüter. Sie sind es, die heute die Ideale der Französischen Revolution hochhalten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Freiheit, protokollierten Lebenskatastrophen Türhüter-Vermutungen als Tatsachen entgegenzusetzen. Die Gleichheit einer wurschtigen Amtssprache, die einen Entscheid über Asyl oder nicht Asyl, über Rückschiebung oder nicht Rückschiebung, vielleicht über Tod oder Leben in dieselben Phrasen drischt wie eine Baugenehmigung für eine Schrebergartenhütte am Donau-Oder-Kanal. Die Brüderlichkeit, die sich im regierungserklärten Wunsch reflektiert, Österreich müsse ein „sicheres Asylland bleiben“ – und die ihre reale Ausprägung in einem Schulungsbehelf des Innenministeriums findet: „Die Verhinderung und die Abwehr von Missbräuchen war das tragende Element der Überlegungen zur Novellierung des Asylrechts. Es ist daher bei der Auslegung einzelner Regelungen im Zweifel jene zu wählen, die die größte Mißbrauchssicherheit bietet.“

In diesem Lichte lässt sich der „Mangel in der Schulung“, den Staffan Bodemar, Regionalvertreter des UNHCR, bei heimischen Asylbehörden vermutet, keineswegs konstatieren. Die Schulung scheint vielmehr perfekt: Wo rund 90 Prozent aller Asylwerber abgewiesen werden, ist ausreichende Missbrauchssicherheit doch wohl gewährleistet. Nein: Österreichs Asyltürhütern ist nicht am Zeug zu flicken. Nicht von „selbsternannten Menschenfreunden“ und nicht durch UNHCR-Studien, die allenthalben „Rechtsschutzdefizite“ und „Widersprüche zur Flüchtlingskonvention“ orten. Die Türhüter tun ihre Pflicht. Sie werden das Asylgesetz hüten, bis keiner mehr kommt, um Zutritt zu ihm zu verlangen. Und dann werden sie die Tür zum Gesetz endlich schließen können.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 11. März 1995

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