Azoren: Marcello rührt sich nicht mehr

Portugal, sagt man, sei das zweitärmste Land der Europäischen Union. Die Azoren, sagt man, seien der ärmste Teil Portugals. Und nicht ist zu finden, was daran zweifeln ließe. Eine Reportage aus der Wetterküche Europas.

 

364 Tage im Jahr ist die Rua da Guarita eine ganz gewöhnliche Straße. Eine Handvoll schmaler Geschäfte, kleine Bars, einige der allgegenwärtigen Friseurläden besetzen die Erdgeschoße einstöckiger Wohnhäuser, die den Weg aus der Stadt Angra hinaus in Richtung Osten säumen: hinaus in Richtung Flughafen, in Richtung Abschied – für die paar Touristen, die sich hierher verirren, ist es ein Abschied von einem Urlaubseden, für Hunderte Azoreaner jährlich ein Abschied von ihrer Heimat, vielleicht ein Abschied für immer.

Aber an diesem einen, dem 365. Tag denkt niemand in der Rua da Guarita an Abschied. Die Straße ist abgesperrt, die Läden sind mit Sperrholz verbarrikadiert, Auslagen und Fenster mit dicker Pappe geschützt. Und vor manchen Hauseingängen verstellen grob gezimmerte Bretterverschläge den Gehsteig. Für diesen einen Tag verwandelt sich die Straße in eine Arena: für den Tag der „Tourada à Corda“, des „Stierkampfs an der Leine“.

 

„Töchter des Meeres“, „Inseln der Glückseligen“: Kaum ein Euphemismus scheint zu verlogen, um nicht doch noch einen schmückenden Beinamen für die neun bewohnten Eilande abgeben zu können, die da, mehr als tausend Kilometer vom nächsten Festland entfernt, inmitten des Atlantiks nicht recht wissen, ob sie der Anfang oder vielleicht doch das Ende Europas sind. Ansichtssache, richtungsmäßig.

Santa Maria und São Miguel im Osten, Faial, Graciosa, Pico, São Jorge und Terceira in der Mitte, Flores und Corvo im Westen: die größte Insel, São Miguel, kaum doppelt so groß wie Wien, die kleinste, Corvo, kleiner als die Leopoldstadt, insgesamt rund eine Viertelmillion Einwohner, autonome Region Portugals mit eigenem Parlament. Die Wetterküche Europas: Dort, wo das hierorts wohlgelittene Azorenhoch seinen Ursprung hat, dampfen im besseren Fall schneeweiße Wolkentüren malerisch über das Land, im schlechteren peitschen die Stürme des Atlantiks das Meer hoch die Berghänge hinauf. Ruhiges Schönwetter? Unbekannt. Vier Jahreszeiten jeder Tag. Das heißt: zumindest drei. Der Winter ist selbst im Winter kein Winter.

War es die Suche nach dem sagenhaften Atlantis, die portugiesische Seefahrer des 15. Jahrhunderts dazu trieb, das Meer im Westen zu erkunden? Genaues ist nicht bekannt, nur eines gewiss: Was sie fanden, kann sie nicht befriedigt haben. Grüne Wüste, dichtbewaldete, gebirgige Eilande, von abweisender Steilküste gesäumt, unbesiedelt, kein Reh, kein Hirsch, kaum ein Stück jagdbaren Wildes. Nur diese Habichte, portugiesisch „açores“, die den Inseln später ihren Namen gaben. Und in Wahrheit keine Habichte, sondern – vermutlich – Bussarde waren.

Irrtumsinseln, Inseln der enttäuschten Hoffnung sollte man sie allesamt nennen: Märchenhafte Silber- und Zinnvorkommen waren es, die den flämischen Edelmann Josse van Hurtere samt mehr als 1000 Flamen 1466 hierher lockten, doch das Märchen blieb immer, was es war: ein Märchen bloß. Der Anbau von Färbepflanzen, Orangen, Wein schien in bunter Folge den Inseln Wohlstand zu bringen; aber die Entwicklung synthetischer Farbstoffe, Pilzkrankheiten und die Reblaus ließen die Träume von ewiger  Prosperität in kurzer Endlichkeit verdämmern. Und heute? Ananas, Tabak, Tee, Bananen: Alles wächst hier – und nichts scheint zu gedeihen. Der Walfang wurde untersagt, der Fischfang in den bescheidenen azoreanischen Nachen grenzt an Liebhaberei. Und den Kühen, die da hinter meterhohen Bambushecken Kleinstweiden abfressen, wird in der EU der rationalisierten Landwirtschaft keine große Zukunft beschieden sein.

 

In de Rua da Guarita weiß man nichts von Wirtschaftskrisen. Nicht am Tag der „Tourada à Corda“. Der Gedanke an die schwarzen Kampfstiere, die da in Kürze die Straße auf und ab toben werden, angestachelt von einem Stierkämpfer, der keinen Degen und keine spitzen Banderillas, bloß einen Regenschirm in Händen hält, fegt das Zwielicht melancholischer Resignation aus den Augen, den Gesichtern. Für diesen einen Tag stülpen Menschen und Häuser ihr Inneres nach außen: Die sonst dicht geschlossenen Jalousien öffnen sich, Sessel, Bänke werden ins Freie geschafft und hinter den Bretterverschlägen platziert, über die man Teppiche, Zierdecken geschlagen hat.

„Schaun Sie, dass sie einen Platz hinter einem der Verschläge bekommen, ehe die Tourada beginnt“, empfehlen Kenner. Der Stier habe zwar verbundene Hörner, aber von ihm auf offener Straße erwischt zu werden sei trotzdem nicht ungefährlich.

Ein geeigneter Bretterverschlag ist rasch gefunden, mannshoch, vor Haus Nummer 60. Rundum, dichtgedrängt, Verwandte, Bekannte, Freunde des Hausherrn. „Wissen Sie“, erzählt uns die Tochter des Hauses, „Bei unserem Stierkampf geht es nicht ums Töten wie in Spanien, die Tourada ist eine Mutprobe. Der Stier überlebt. Und alle anderen, die mitmachen, auch. Üblicherweise.“

 

Ganz still liegt er da, der Lagoa do Fogo, im Herzen der Hauptinsel, São Miguel. Sein türkisblaues Wasser spiegelt die schroffen, grünen Flanken wieder, die ihn umringen. Und nichts lässt ahnen, was ihm seinen Namen verschafft haben könnte: See des Feuers. Man schrieb das Jahr 1563 als eine gewaltige Eruption den Kessel schuf, in dem heute der See liegt; fünf Meter hoch sollen danach Asche und Auswurfgestein an manchen Stellen die Insel bedeckt haben, die Ortschaft Ribeira Seca wurde verschüttet.

Freilich: Die tödliche Gefahr ist nicht Geschichte. Sie ist der Existenz der Inseln eingeschrieben: Gipfel von Vulkanen sind es, die da aus dem Meer ragen. Vulkane, die jahrhundertelang friedlich vor sich hin schlummern, um eines Tages mit umso größerem Getöse zu erwachen. Hier, wo tief unter dem Meeresspiegel afrikanische, euroasiatische und amerikanische Platten aufeinanderstoßen, ist nur die Ungewissheit gewiss. Und auch ein Erdbeben kein außergewöhnliches Ereignis. Am Neujahrstag 1980 genügten elf Sekunden, um die historische Stadt Angra in ein Ruinenfeld zu verwandeln. Jenes Angra, das heute – mit Hilfe üppig fließender Unesco-Gelder instand gesetzt – dank seines prachtvollen Stadtbildes mit Recht zum Kreis des Weltkulturerbes zählt.

Fast will es scheinen, als hätten sich die Azoreaner über die Jahrhunderte daran gewöhnt, auf dem Ventil eines Druckkochtopfs zu leben. In den heißen Quellen, die auf São Miguel aus der Erde brodeln, garen Großfamilien am Wochenende ihren traditionellen Fleischeintopf, den Cozido das Furnas. Und unter dem wieder oder noch stillen Lagoa do Fogo gewinnt ein geothermisches Kraftwerk seit 1978 aus heißem Wasser Energie. Gezähmte Naturgewalten? Gezähmt nur bis zu den nächsten Eruptionen. Mit ihnen kehrt die wohlverdrängte Angst zurück. 1957 brach vor der Nordküste de Insel Faial ein neuer Krater aus dem Wüstengrund. Ascheregen, vulkanische Bomben schlugen die Bevölkerung zweier Dörfer in die Flucht, ließen Tausende andere den Launen der Heimaterde für immer den Rücken kehren. Jene aber, die bleiben, scheinen ihrem wackligen Flecken Land umso enger verbunden. Zwei Quadratkilometer habe der Vulkan damals ausgespien, erzählt die Betreuerin des kleinen Museums, das die Geschichte des jüngsten Ausbruchs dokumentiert. Zwei Quadratkilometer mehr für Portugal? Nein, nicht für Portugal – für Faial.

 

Eine kleine Kapelle zieht durch die Rua da Guarita, vorneweg das Becken: Tuba, Trompete, Posaune, Trommel hinterdrein. Von Tür zu Tür führt der Weg, von Glas zu Glas wohl auch. Station um Station klingt der immer gleiche Marsch immer freier, losgelöst von Takt und engen Grenzen der Harmonie.

Ein Lastwagen fährt vor, Bordwände werden heruntergeklappt, fertig ist die Zuschauertribüne. Der Caterpillar vis-à-vis: bis in die hocherhobene Schaufel voller Menschen. Auch die Stiere sind schon da, vier an der Zahl, harren in dunkelgrünen Boxen ihres Auftritts. Bald werden dem ersten die Spitzen seiner Hörner verbunden werden, bald wird er die gut 100 Meter lange Leine um den Nacken gelegt bekommen, an der ihn acht Mann in Zaum halten sollen, auf dass er nicht die vorgesehene Kampfstatt verlässt.

 

Ziemlich feist ist er, der junge Mann, der, Schweiß auf der Stirn, eine jener kleinen Propellermaschinen erklimmt, die den Flugverkehr zwischen den über eine Distanz von fast 700 Kilometern im Meer verstreuten Inseln besorgen. Mit seinen Eltern ist er soeben, aus Boston kommend, am internationalen Flughafen der Insel Terceira eingetroffen, quetscht sich jetzt seine Leibesfülle zwischen die Armlehnen seines Sitzes. Besuch in der alten Heimat. Vater und Mutter steht sie noch ins Gesicht geschrieben, die herbe Kargheit der Azoren. Den Zügen des Sohnes meint man eher Chips, Cola und Hamburger, die Insignien seines neuen Zuhauses, abzulesen.

Wer könnte sagen, wie viele Häuser und Gehöfte, auf immer verlassen, dem Verfall entgegenschlummern? Dort, wo sich in alten Mauern ausnahmsweise neues Leben regt, ist nicht selten im Vorgarten kanadischer Ahorn oder das Sternenbanner gehisst. Pensionäre, in der Fremde zu Wohlstand gelangt, heimgekehrt auf den Flecken vulkanischer Erde die sie einst verließen, verlassen mussten. Portugal, sagt man, sei das zweitärmste Land der Europäischen Union. Die Azoren, sagt man, seien der ärmste Teil Portugals. Und nichts ist zu finden, was daran zweifeln ließe.

 

Eine Gruppe von Brasilianern drängt sich durch die Rua da Guarita. Ein Folklorefestival hast sie hier, auf Terceira, an Land gespült. Und jetzt, am Nachmittag, steht der Besuch der Tourada auf dem touristischen Programm. Gäste sind stets willkommen. Ein Plätzchen im Schutz des Verschlags ist rasch gefunden. Wie wär’s mit erster Reihe? Eine junge Dame nützt die scheinbar günstige Gelegenheit, während ihr Begleiter, kaum 20, draußen bleibt. Was die Azoreaner können, das kann er noch lang. Also auf, Marcello, auf in den Kampf gegen den Stier.

 

Praia, São Miguel. Warten auf den Bus. Schon längst hätte er vorbeikommen sollen. 15.30 Uhr ab Vila Franca, steht auf dem Fahrplan zu lesen. Jetzt ist es halb fünf – und Vila Franca noch immer kaum 20 Busminuten entfernt. Es wird weitere eineinhalb Stunden dauern, bis der Bus kommt. Ein Unfall? Ein Gebrechen? Nein, bloß eines der zahlreichen religiösen Feste mit einer der zahlreichen Prozessionen. Und wo Azoreaner feiern, da stehen alle Räder still. Niemand scheint sich darüber zu erregen. Zeit? Davon gibt’s genug. „Até amanhà“, sagt man. Bis morgen. Das heißt: bis irgendwann.

Gegenüber, sechs Stockwerke hoch, der wuchtige Komplex des Hotels Bahia Palace. Der Palast des Visconte von Praia musste ihm weichen. Im Interesse des Fremdenverkehrs, Sie verstehen. Kaum eröffnet, stand der Touristensilo alsbald leer. Schon allein deshalb, weil es an einer entsprechend dichten Frequenz der Flüge zu den Azoren mangelte, behaupten Böswillige; die vielen Gäste, die man hier, an einem der wenigen großen Sandstrände der Inseln, zu begrüßen gedachte, hätten vom Festland herüberschwimmen müssen.

Seit Frühling 1995 hat das Bahia wieder geöffnet. Im Unterschied zum Schwesterhotel, Monte Palace, das auf dem schmalen Kraterrand von Sete Cidades balanciert, an die 600 Meter über dem Meer. So hoch wie kaum ein anderes Haus auf den Azoren – die Luftfeuchtigkeit zwingt die Inselbewohner in die Tiefe. Was mögen die Bauern der Umgebung auf ihren Eselskarren wohl gedacht haben, als die staatlichen Tourismusexperten eines ihrer Renommierprojekte der Achtzigerjahre ausgerechnet in der Zone des mitunter schier ewigen Nebels ansiedelten?

Die Hotelgroßkubaturen der Neunziger stellt man in zentrale Orte. Im Seglerparadies Horta auf Faial wächst ein Stahlbetonskelett in die Höhe. Für wen eigentlich, ist man versucht zu fragen, und wozu? Am Ende bloß, um die dafür fließenden EU-Förderungen lukrieren zu können? Nebenan, in dem festungsartig-monumentalen Bau, in dem die azoreanische Regionalversammlung tagt, wird man schon wissen, warum.

 

Zwei Böllerschläge hallen durch die Luft. Der Stier ist los. Die Szenerie kommt in Bewegung. Vor dem Verschlag beginnt die Menge zurückzufluten, weg, schnell weg. Noch ist nichts zu sehen, nur zu ahnen, dass von links, die Straße herauf, jede Sekunde der Stier vorbeidonnern wird, auf der Jagd nach allem, was sich bewegt, niedertrampelnd alles, was sich ihm in den Weg stellt. Nur die besonders Wagemutigen stehen noch vor dem Verschlag, stets einen der Pfosten in Griffweite, die aus den Brettern ragen. Ein Schreien, ein dumpfes Poltern, dann ist er da, Speichel tropft aus seinem Maul, zieht bei jeder Wendung des Kopfes lange Fäden durch die Luft. Gerade noch rechtszeitig kann sich ein Obstverkäufer auf die Kante der Planken schwingen, dann krachen die Hörner schon gegen die Bretter unter ihm. Die wanken, aber sie halten stand.

Marcello hat sich in einen nahen Hauseingang geflüchtet. Jetzt sieht er den Stierkämpfer an der Arbeit, sieht ihn in engen Wendungen vor dem Kopf des Stiers tänzeln, dann und wann den Schirm in seiner Hand spannend, um das Tier zu reizen.

Und er sieht andere junge Azoreaner vorbeispringen, dem Stier entgegen, und dann rasch wieder zurückweichen, Haken schlagend wie fliehende Hasen, denn einmal ins Laufen gekommen, hält den Stier nichts mehr, halten ihn auch nicht die acht Männer, die ihn an langer Leine nach Kräften zu lenken versuchen.

 

Das Café International in Horta: Erinnerungen an bessere Zeiten hängen in der Luft. An die große Zeit des transatlantischen Fernmeldekabels, die Horta in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts nicht nur zum Stützpunkt internationaler Telegrafengesellschaften machte, sondern auch zum Umschlagplatz spionierender Nachrichtendienste. Wo einst honorige Fernmeldetechniker und weniger honorige Agenten bei einer Tasse Kaffee saßen, ist Ruhe eingekehrt. Und die große Seglergemeinde, die vor Horta ankert? Die bleibt unter sich, sei es im hiesigen Yachtklub, sei es ein paar hundert Meter weiter in „Peters Café Sport“. Unter sich wie die Bauern, wie die Fischer, die vor den Türen ihrer Häuser hocken, wenn sich der Tag dem Abend zuneigt, und vielleicht darüber grübeln, warum sie anscheinend zu nichts Besserem bestimmt sind, als einer Handvoll Fremden den pittoresken Vordergrund für fotografische Urlaubserinnerungen zu liefern.

 

Marcello fasst sich ein Herz. Wenn der Stier zurückkehrt, wieder zum oberen Ende der Straße prescht, dann wird er vorne stehen, ganz vorne. Abermals drängt die Menge durch die Rua da Guarita. Wieder das Schnauben, dumpfe Rollen, erst fern, dann näher, jetzt ist er wieder da. Marcello springt vor, der Stier wendet den Kopf, sieht den Gegner, stampft auf ihn zu. Mit einem Satz ist Marcello vor dem Verschlag, hinter dem seine Freundin jetzt aufschreit, greift nach einem Pfosten, will sich auf die Planken schwingen. Der Stier ist schneller. Die Hörner haken ein in die Kniegelenke, mit einem Ruck wird Marcello zu Boden gerissen, im nächsten Augenblick in die Luft gewirbelt, einmal, zweimal, dreimal. Immer wieder das dumpfe Klatschen auf dem Asphalt, immer wieder Glieder, die durch die Luft sausen, als hätten sie sich verselbstständigt, gehörten nicht mehr zu einem, demselben Körper. Ein fünftes, ein sechstes Mal schaufelt der Stier den Reglosen in die Luft, dann scheint er der Sache überdrüssig, wendet sich langsam ab, anderen, neuen Gegnern zu. Marcello rührt sich nicht mehr.

 

Konzert auf der Praça Gonçalo Velho in Ponta Delgada. Es spielen Tony Ferreira und die Time Travellers. Eine Handvoll Scheinwerfer täuscht eine Lichtshow vor. Gespenstische Schatten huschen über die Fassaden, die den Hauptplatz der azoreanischen Hauptstadt umgeben. Fassaden im Monumentalstil des faschistischen Diktators Salazar, der ein halbes Jahrhundert lang wie ein böses Omen auf Land und Leuten hockte, ehe 1974 die friedliche Revolution der Nelken seiner Herrschaft über Portugal ein Ende setzte.

Tony Ferreira schnulzt. Portugiesisch. Immer wieder „Amor“, was sonst. Die Zuschauer scheinen ungerührt. Tony streicht die Flagge. Die Time Travellers treten an die Rampe. Wollt ihr portugiesische Lieder? Oder sollen wir doch lieber englisch singen? Jubel. Dann geht`s los. Rock von der Stange. Die Tage mögen vorbei sein, da man auf den Azoren laut über einen Anschluss an die Vereinigten Staaten nachdachte, damals, Ende der Siebziger, als man auf den traditionell konservativen Inseln fürchtete, die Kommunisten könnten in der jungen Demokratie die Macht ergreifen. Aber die große Sehnsucht liegt auch heute noch im Westen.

 

Ein Böllerschuss. Der Stier ist wieder in seiner Box. Drei weitere warten noch auf ihren Auftritt. Kurze Pause. Vor dem Haus Nummer 60 wird Labung gereicht, nicht nur an die Verwandten, auch an die unbekannten aus der Fremde: Bier, Wein, Wasser, ein Stück Kuchen?

Marcello lebt. Bleich hat er sich über die Straße geschleppt, ist in einem Haustor verschwunden, humpelnd zwar, aber – so scheint es – nicht weiter verletzt. Den Schock wird er rasch verwinden. Ebenso rasch wie vor dem Haus Rua da Guarita 60 der Bretterverschlag, vor der Auslage vis-à-vis die Pappe wieder verschwinden, der Alltag wieder einkehrten wird in dem Viertel im Osten der Stadt Angra, durch den die Straße zum Flughafen führt. Der Alltag einer Kleinstadt am Anfang Europas. Oder an Europas Ende. Ansichtssache, richtungsmäßig.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 16. Dezember 1995

Weitere Artikel