„Das ist doch nicht normal – aber es ist so“

Journalistin aus Moskau, derzeit Niederösterreich: Elena Vorontsova.


Wir vereinigen sie in Statistiken, richten ihnen Beiräte ein, benutzen sie dazu, den rechten Schwung in matte Wahlkämpfe zu bringen, berechnen, was sie uns kosten und was sie für uns leisten, und selbstverständlich kennen wie ihren Anteil an der hiesigen Kriminalität. Nur: Wer sind sie – die Ausländer?

Österreich hält derzeit statistisch-offiziell 726.305 Antworten auf diese Frage bereit. Das ist die aktuelle Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung auf rotweißrotem Boden. Elena Vorontsova ist eine von diesen 726.305. 1990 hat es die Moskauerin nach Österreich verschlagen. „Meine wichtigste Motivation hierherzukommen war mein Sohn. Ich wollte ihm eine bessere Ausbildung geben können“, meint die Journalistin heute.

Was sie damals von Österreich gewusst hat? „Viel über die Donaumonarchie, aber über das moderne Österreich kaum etwas. Und deshalb war es für mich sehr überraschend, wie groß nach wie vor Österreichs Beitrag in allen Bereichen des Schöpferischen ist, wie viele außerordentliche Persönlichkeiten es gibt. Das war so – und das ist so. Russland befindet sich in einer schweren Krise, es scheint zu zerbrechen – wie Österreich vor 80 Jahren. Und da war es für mich im Zusammenhang mit der Frage, wie es mit der russischen Kultur weitergehen wird, sehr interessant festzustellen, dass Österreich seine Positionen in der Kultur, in der Wissenschaft nicht verloren hat, es entwickelt sich anders weiter.“

Ein erstes Heim fand Elena Vorontsova samt Mann und Kind im Norden Niederösterreichs: „Wir kamen direkt aus der Großstadt Moskau und wollten ein bisschen auf dem Land leben. Außerdem waren die Eltern meines Mannes Landwirte, er ist in einem Dorf aufgewachsen und wollte Zeit wieder in ländlicher Umgebung verbringen. Und so mieteten Freunde von uns ein Bauernhaus in Staatz.“

Wo sich alsbald heimatliche Gefühle besondere Art einstellten: „Nach einiger Zeit denkt man, es ist eigentlich gleich, ob man in Russland in einem Dorf lebt oder in Österreich. Hier ist das Lebensniveau zwar viel höher, aber die Menschen sind dieselben. Alle schauen, wohin man fährt, was man macht, alles wird besprochen. Wenn man zum Auto geht, kommt die Nachbarin ans Fenster, um ein bisschen zu plaudern und allerlei zu fragen, wie es dem Mann geht, wann er kommt und so weiter. Wie bei uns.“ Mittlerweile ist man freilich schon auf dem Sprung von Landleben (derzeitiger Wohnsitz: Loosdorf im Weinviertel) zurück in die Stadt – vor allem aus beruflichen Gründen: Für die Journalistenfamilie ist die Distanz zur Hauptstadt inzwischen zu einem nur unter großen Mühen zu überwindenden Arbeitshindernis geworden: „Mein Mann und ich, wir sind als Korrespondenten akkrediert, da ist das nördliche Niederösterreich einfach zu weit weg von Wien.“

Sonst erlebt Elena Vorontsova ihre österreichische Existenz als weitgehend problemfrei, sieht man davon ab, dass es ihr neuerdings immer häufiger passiert, „jenen Menschen zugerechnet zu werden, die man ,Russische Mafia‘ nennt. Zum Beispiel wollte ich einmal zahlen mit meiner Kreditkarte, und als der Verkäufer bemerkte, dass ich Russin bin, wollte er meine Kreditkarte nicht akzeptieren, auch nicht meinen Eurocheque. Das passiert nicht oft, aber es passiert.“

Die Geschehnisse in ihrer Heimat verfolgt Elena Vorontsova mit gemischten Gefühlen: „Positiv ist die Entwicklung zu einem normalen Leben; die kommunistische Wirtschaft, der kommunistische Staat, das war ja nicht normal. Aber es gibt Probleme, der Unterschied zwischen Reich und Arm ist sehr groß, der Staat ist schwach. Ich bin ja für einen Staat, der nur die wichtigsten Dinge regelt, doch diese Regeln müssen sehr klar sein; die Gesetze in Russland dagegen sind sehr weich. Aber das ist eine andere Geschichte.“

Von einer Rückkehr in die Heimat kann jedenfalls derzeit keine Rede sein. „Russland ist mir ein wenig fremd geworden. Denn alle Veränderungen geschehen, ohne dass ich dabei bin. Meine Mutter ist gestorben, meine Wohnung ist vermietet.“ Würde sie heute nach Moskau fahren, könnte sie zwar bei ihrer Freundin unterkommen, aber dann wäre sie nur „Gast“ in der eigenen Heimat.

Und außerdem. „Als ich hierhergekommen bin, wollte ich eigentlich nicht für lange Zeit bleiben. Aber in meinem Beruf kann man derzeit nur im Ausland arbeiten. Denn die Zeitungen bei uns sind in der Krise. Im Übrigen bemerke ich, wie ich immer mehr ins österreichische Leben versinke. Zum Beispiel bei den Wahlen. Ich habe mich schon gefragt, wieso interessieren mich die österreichischen Wahlen mittlerweile mehr als die russischen. Das ist doch nicht normal – aber es ist so. Dieser Prozess ist im Gang. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, ein halbes Jahr in Russland zu leben und ein halbes Jahr in Österreich. Aber in Wirklichkeit ist das unmöglich, denn wir müssen arbeiten. Das geht vielleicht, wenn wir alt und reich sind und bei guter Gesundheit.“

Und wie fühlt sich Frau Vorontsovas Sohn in der neuen, der zweiten Heimat? „Das ist eine schwierige Frage. Zwölf Jahre war er alt, als er nach Österreich kam. Und heute kann ich nur sagen: Er ist Russe, und gleichzeitig ist er kein Russe. Aber genausowenig ist er hundertprozentig Österreicher. Vor ein paar Jahren sind Freunde aus Amerika zu uns auf Besuch gekommen, russische Emigranten. Mein Sohn begann mit ihnen zu sprechen, und sie machten ihm daraufhin ein Kompliment, das für mich ganz einzigartig war: Sie sagten, wie schön er Russisch spreche. Als sei das eine fremde und nicht seine eigene Sprache. Diese kleine Szene hab ich bis heute nicht vergessen.“


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 4. Jänner 1997

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