Die Eltern sagen, er soll sich keine Sorgen machen

Geboren in Tirana, Albanien, derzeit Wien: der Komponist Ardian Ahmedaja.


„Wissen Sie, bei uns zu Hause, wenn man sich da in einem Lokal trifft, dann muss der, der als Erster kommt, die anderen einladen.“ Ardian Ahmedaja, Komponist aus Albanien, sitzt in einem Wiener Innenstadtcafé, trinkt seine Melange und hat auch sonst wenig vom Bild des grimmigen, blutrünstigen Skipetaren an sich, das man hierzulande kürzlich aus dem Fundus historischer Klischees hervorgeholt hat, um damit aktuelle Ereignisse sinnfällig zu illustrieren.

„Am Anfang habe ich mich darüber sehr geärgert“, erzählt Ahmedaja. „Leute, die sich Albanien so vorstellen, haben einfach kein reales Bild. Auch die, die in den Zeitungen schreiben, haben nicht immer eine Ahnung von der Wirklichkeit.“ Selbst manche wissenschaftliche Publikation lasse die nötige Seriosität vermissen: „Vor einiger Zeit habe ich ein Buch in die Hand bekommen, das von Ethnologen herausgegeben wurde. Darin wird eine kleine Region im Norden Albaniens beschrieben, in der es tatsächlich die Blutrache gibt; und es ist ja auch in Ordnung, dass man dieses Phänomen untersucht – nur: Das Buch heißt einfach ,Albanien‘. Ganz abgesehen davon, dass viele albanische Zitate falsch geschrieben sind. Wenn schon Wissenschaftler solche Fehler machen, fällt es leicht, sich vorzustellen, was in anderen Bereichen passiert. Ich kann einfach nur versuchen, zu zeigen, dass es auch etwas anderes gibt.“

Seit 1991 lebt Ahmedaja in Wien. Hierher, in den Westen gebracht hat ihn vor allem sein Wissensdrang: „1987 habe ich mein Kompositionsstudium in Tirana abgeschlossen. Danach habe ich als Dramaturg am Opernhaus gearbeitet und an der Hochschule unterrichtet. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich genug weiß. Da die Religion verboten war, hat man bei uns mit Bach begonnen, Musik zu studieren, natürlich ohne die Bachsche Kirchenmusik, ohne Kantaten, Oratorien und so weiter. Das ging bis Anfang dieses Jahrhunderts, Ravel, Debussy, ein wenig Prokofieff. Schönberg hielt man schon für einen Teufel. Einfach aus politischen Gründen. Man hatte bei uns keine Ahnung, was danach passiert ist. Das war einer der Gründe, warum ich gedacht habe, ich muss unbedingt anderswo studieren.“

1990 lernt Ahmedaja den in Tirana gastierenden Flötisten Werner Tripp und dessen Frau kennen: „Ich habe ihnen von meinen Sorgen erzählt. Sie haben Kompositionen von mir mitgenommen und dem Wiener Hochschulprofessor Erich Urbaner gezeigt; der hat zugesagt, mich in seine Kompositionsklasse aufzunehmen.“ Ein Stipendium der Rotarier schafft schließlich die finanzielle Basis für Ahmedajas Studienaufenthalt in Wien.

Die ersten Eindrücke vom Westen? „Ich habe eigentlich erwartet, dass es ein Schock wird, aber es war kein Schock. Wahrscheinlich spielte es eine Rolle, dass ich genau wusste, was ich machen will. Außerdem hatte ich schon etliche Kontakte hier, das hat mir sehr geholfen. Ich habe mich überhaupt nicht fremd gefühlt. Ich konnte zwar noch nicht so gut Deutsch sprechen, aber schon viele verstehen. Außerdem ist an der Hochschule eine sehr gute Atmosphäre. Man merkt nicht, dass man Ausländer ist. Man ist Musiker – und aus.“

An ein – nur scheinbar nebensächliches – Erlebnis seiner ersten Wiener Tage erinnert sich Ahmedaja besonders gut. „Ich war gemeinsam mit Freunden spazieren in Schönbrunn, die hatten ein kleines Kind mit, und das ist plötzlich hingefallen. Bei uns wäre das ein Riesenschrecken, die Mutter wäre sofort zu dem Kind gegangen, um zu sehen, was passiert ist. Hier: Die Mutter hat überhaupt nichts getan, das Kind ist von alleine wieder aufgestanden und weitermarschiert. Ich glaube, wenn ein Kind so aufwächst, dann wird es auch im späteren Leben versuchen, ohne Hilfe wieder auf die Beine zu kommen, wenn Schwierigkeiten auftauchen.“

Mittlerweile waren auch Ahmedajas Eltern zu Besuch in Wien: „Sie wollten sehen, wie ich lebe, mit welchen Menschen ich verkehre. Mein Vater kannte den Westen schon, er war auch früher oft im Ausland, als Ziehharmonikaspieler mit einem Volksmusikensemble; das diente damals als Propaganda.“

Ahmedaja selbst wiederum kehrt ein- bis zweimal pro Jahr nach Tirana zurück: „Ich schreibe meine Dissertation über albanische Volksmusik, das Material dafür ist natürlich hauptsächlich in Albanien.“ Entfremdung von der Heimat empfinde er bei seinen Besuchen nicht. „Ich glaube, dass man die Wurzeln an sich nicht verliert.“ Freilich: „Es ändert sich sehr viel. Wenn ich zu Hause bin und mich so wie in Wien verhalte, dann sagt man mir gleich: Vergiss nicht, dass hier Albanien ist.“ Ein Beispiel: „Man will eine Freundin ins Café einladen. Das geht in Tirana. Aber in vielen anderen Städten ist nicht daran zu denken.“

Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben Ahmedaja völlig überrascht. Und nicht nur ihn: „Niemand hat geahnt, dass es so weit kommen würde. Die Lage ist selbst für die Albaner sehr unübersichtlich. Das Problem liegt hauptsächlich in der Versorgung. Meine Eltern sagen zwar, ich solle mir keine Sorgen machen; aber die Lage ist sehr schlimm. Nichts funktioniert. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass ausländische Investoren einige Zeit überhaupt nichts tun werden.“ Viele Leute hätten gedacht, die Pyramidenspiele seien ihre „einzige Chance“: „Sie haben ihre Häuser verkauft und im Gegenzug eine Wohnung gemietet und dachten, dass sie mit den Zinsen von dem Kapital die Wohnung bezahlen könnten. Und jetzt? Jetzt haben sie gar nichts.“


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 29. März 1997

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