Qualtinger-Gesamtausgabe: Weil drei Viertel nicht ¾ sind

Fünf Bände, 1700 Seiten Text – recht respektabel für einen, der summa summarum als Unvollendeter gilt, als Künstler im Konjunktiv. Motto: Was hätte er alles, wäre er nicht . . . Zum Abschluss der Werkausgabe Helmut Qualtinger: Versuch einer Richtigstellung.


Im Herbst vergangenen Jahres zeigte man sich anlässlich seines zehnten Todestages tief bewegt. Im Herbst kommenden Jahres wird man all die Elogen, Nach-, Aus-, Auf-, Zwischen- und sonstigen Rufe von damals aus den Archiven kramen und anlässlich seines posthumen 70. Geburtstages, um ein paar aktuelle Nuancen vermehrt und stilistisch aufgefrischt, abermals in die publizistische Schlacht werfen. Qualtinger, das Genie, Qualtinger, der Alkoholiker, Qualtinger, der Vereinnahmte, Qualtinger, der Verfemte, Qualtinger, der Unberechenbare, Qualtinger, die Reinkarnation des lieben Augustin und so weiter und so fort.

So mag es einer nüchternen Betrachtung durchaus dienlich sein, dass der Wiener Deuticke Verlag seine fünfbändige Qualtinger-Werkausgabe gerade in dem im Übrigen Qualtinger-freien Jahr 1997 abschließt. Wobei es gewiss kein Zufall ist, dass mit dem „Herrn Karl“ und den Travnicek-Dialogen die zugkräftigsten Teile des Qualtinger-Œuvres schon im vergangenen Todestagjubelherbst auf den Büchertischen lagen – und dass für das heurige Jahr nur mehr Sperriges und Minderheitenprosa blieben: die Satiren der letzten Jahre und, dieser Tage herausgekommen, eine Auswahl jener Texte, die Qualtinger gemeinsam mit Carl Merz zwischen 1955 und 1963 für den „Neuen Kurier“ unter dem Kolumnentitel „Blattl vorm Mund“ verfasste.

Fünf Bände, miteinander (inklusive Anhang) gut 1700 Seiten: Das ist recht respektabel für einen, der summa summarum als Unvollendeter gilt, als Künstler im Konjunktiv. Was hätte er alles, wäre er nicht. Wäre er nicht so verschwenderisch mit seiner Begabung und seiner Gesundheit umgegangen. Wäre er disziplinierter gewesen. Wäre er nicht so früh gestorben. Kurz: hätte er sich nicht „versoffen“, wie Gerhard Bronner in bemerkenswerter Nüchternheit seinem einstigen Kollegen, Mitstreiter und besten Interpreten nachgerufen haben soll. All diese Hättes und Wäres, sie sind die hohe Klippe, über die die scheinbar so emphatisch den Toten preisende Nachwelt das unübersehbar Vorhandene in den Orkus des Halbfertigen, Unvollkommenen, Unbedeutenden stößt. Es kann ja wohl nichts Rechtes da sein, wenn man sich so dringend nach irgendetwas, was nicht da ist, sehnt.

Wie auch immer: Knapp 58 Lebensjahre sollten im Regelfall genügen, über das Stadium des Vielversprechenden hinauszuwachsen. Und bei Helmut Qualtinger – so viel steht fest – genügten sie allemal. Das zu erkennen, hätte es die Deuticke-Werkausgabe nicht gebraucht. Auch so war ja schon hinlänglich bekannt, dass Qualtinger etwa mit dem „Herrn Karl“ die wohl wichtigste Figur der österreichischen Nachkriegsdramatik geschaffen hat (und Carl Merz, Qualtingers Karl-Koautor, sei hier bewusst nur am Rand erwähnt, schließlich war dieser „Herr Karl“ kein Papier-Geschöpf, er wurde, was er heute in unseren Köpfen ist, erst vor den Fernsehkameras und auf der Bühne – in der unnachahmlichen, unerreichbaren Interpretation des Helmut Qualtinger; das merkt man allen späteren Versuchen anderer, diese Kreatur in ihrer widerwärtigen Gemütlichkeit, ihrer infamen Liebenswürdigkeit auf der Bühne zu reanimieren, schmerzhaft an).

Gewiss: Qualtinger hat uns nicht den großen Roman geschenkt. Er hat uns – manche mögen geneigt sein zu sagen, Gott sei Dank – auch kein überwältigendes Welterklärungsdrama hinterlassen. Seine Form blieb die Miniatur, in den Anfangsjahren an den Gesetzmäßigkeiten und Bedürfnissen des Kabaretts orientiert, später einzig der präzisen, detailreichen Abbildung einer Wirklichkeit verpflichtet, die so oft so wenig wirklich scheint, wie sie uns in seinen späten Szenen entgegentritt.

So wie sich Qualtingers schauspielerisches Ausdrucksspektrum vom effektvollen Brachialvokabular eines jugendlichen Lasst-mich-auch-den-Löwen-Spielers hin zum kargen, auf jede Äußerlichkeit verzichtenden Instrumentarium des Kraus- und Nestroy-Lesenden entwickelte, so bewegte sich auch sein schriftstellerisches Repertoire immer weiter weg vom Pointengeklimper der Brettltage auf einen knappen, lakonischen Stil zu, der auf den ersten Blick mitleidlos scheinen mag – und der doch nichts weniger als dieses ist: Die Anteilnahme des Autors zeigt sich darin, mit welcher Akribie er seine Figuren charakterisiert, einer Akribie, die entlarvt, aber nicht denunziert.

Gerade die kleinen, minuziösen dramatischen Studien der Siebziger- und Achtzigerjahre sind es, die unsere Aufmerksamkeit viel mehr als bisher verdienen: Qualtinger streift durch Hinterhöfe und Gemeindebauwohnzimmer, durch Villen und Gasthofgärten, und was er findet, die ganze Niedertracht, Hinterhältigkeit, aber auch die Unfähigkeit, sich freizumachen von den Ängsten und Zwängen, die diese Niedertracht und Hinterhältigkeit fast unvermeidlich nach sich ziehen, all das packt er in Dialoge, die über uns – und auch über ihren Schöpfer – mehr und Erhellenderes erzählen als ganze Stapel von Selbsterkenntnisliteratur.

Qualtinger sei ein „genialer Stimmenimitator“ gewesen, schrieb Sigrid Löffler 1986 in ihrem Nachruf in der „Zeit“: „Er hatte ein feines Ohr für Sprachmasken, konnte akustische Verlarvungen durch Imitation zur Kenntlichkeit entstellen.“ Durch Imitation zur Kenntlichkeit entstellen: Präziser ließe sich das Rezept nicht beschreiben, dem nicht nur der Vortragende Qualtinger (den Löffler meint), sondern auch der Schriftsteller Qualtinger – zumindest in seinen letzten Schaffensjahren – folgte. Aufmerksamer hat kaum einer uns aufs Maul geschaut. Und nur wenige sind dabei so sparsam mit Be- und Verurteilungen umgegangen.

Auch das unterscheidet den älteren vom jungen Qualtinger. In seinem Stück „Jugend vor den Schranken“, 1949 uraufgeführt, da weiß der 20-Jährige ganz genau, wie die Welt funktioniert, was gut, was böse ist – und er teilt es seinem Publikum einen Abend lang unbarmherzig mit. Auch im Kabarett der Fünfziger geriert sich Qualtinger (an der Seite von Bronner, Wehle, Merz, Kreisler) häufig als Zeigefinger-Moralist, dessen missionarischer Gestus genauso wenig von dieser – unserer heutigen – Welt ist wie so manche Pointe jener Tage. Erst ab Anfang der Sechziger, mit dem Abschied vom Kabarett, mit dem „Herrn Karl“, beginnt er mehr und mehr der zu werden, der er vielleicht sein will: ein hellwacher Beobachter, dessen Nachrichten von der Wirklichkeit keines ethischen Kommentars bedürfen, weil sie alles, was zu sagen ist, sagen – sei es in, sei es zwischen den Zeilen.

Solche Entwicklungen sichtbar zu machen, bisher Verstreutes und Vergriffenes zu einem Ganzen zu vereinen, das ist das unbestreitbare Verdienst der Werkausgabe des Deuticke Verlages. Nebst einer Handvoll Erstveröffentlichungen aus Jugendzeit und späten Tagen präsentiert die Auswahl allerdings vor allem Bekanntes in bekannter Form. Überraschungen bleiben dem Leser weitgehend erspart, abgesehen davon, dass das Ringtheaterbrand-Fernsehspiel „Alles gerettet“ bei den „Texten fürs Theater“, die Travnicek-Sammlung nicht im Kabarett-Band, sondern bei den „Texten für die Bühne“ zu finden ist. Wobei noch zu fragen wäre, wie man sich den Unterschied zwischen „Texten fürs Theater“ und jenen „für die Bühne“ vorzustellen hat.

Herausgeber Traugott Krischke, Jahrgang 1931, ist im Sommer vergangenen Jahres gestorben. Das mag einige Ungereimtheiten der Edition erklären. Und vielleicht hätte Krischke auch seine Entscheidung noch einmal überdacht, die Sammlung „Drei Viertel ohne Takt“ in „¾ ohne Takt“ umzubenennen, um – wie im Anhang nachzulesen – „den musikalischen Begriff“, den der Titel enthalte, zu verdeutlichen. Schließlich wird ihm doch nicht entgangen sein, dass in Qualtingers Heimat drei Viertel vor allem flüssig und keineswegs vor allem musikalische ¾ sind. Der Anhang wiederum erfreut mit Hinweisen auf die Entstehung der Texte – und verblüfft mit einem Anmerkungsapparat, dessen Gestalter etwa Odysseus für erläuterungsbedürftig halten, nicht aber Adolf Rott (für Nichtwiener und Nichttheaterkenner: Rott war Regisseur und – von 1954 bis 1959 – Burgtheaterdirektor).

Kann sie das also sein, die verbindliche, die endgültige Qualtinger-Edition? Qualtinger sei – schrieb Hans Weigel in seinem Nachruf – wie wenige andere Zeitgenossen „eine Gesamtausgabe wert“. Wohl auch noch eine sorgfältigere als diese.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 11. Oktober 1997

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