Usbekistan: Tanz auf der Zunge

Iskander arbeitet für das Innenministerium. „Die Leute haben Angst vor uns“, sagt er. Die Leute – die werden wissen, warum. Usbekistan: Momentaufnahmen einer mittelasiatischen Wirklichkeit.


Der Präsidentenkopf. Eine Kompanie Mikrofone steht vor seinem Mund habt acht. Die Lippen öffnen sich. Rhythmisch regelmäßig. Im Schritt, Marsch! Der Tonfall: amtliche Verlautbarung. Schnitt. Eine Kompanie Journalisten, jeder Blick ein Salutieren, jedes Augenbrauenheben eine Gehorsamsbezeugung. Dann wieder der Präsidentenkopf. Mikrofone, habt acht. Lippen, im Schritt. Schnitt. Journalisten, gehorsam. Und so weiter. Fünf Minuten. Zehn Minuten. 15 Minuten.

Wenn alles schläft und einer spricht, dann nennt man das in Usbekistan innenpolitische Berichterstattung. Präsident Islam Karimow weiß, was gut und richtig ist für sein Volk. Die Kaderschmieden der KPdSU waren ihm gewiss eine hervorragende Schule. Und wem bewusst ist, dass ihn jederzeit der Bannstrahl des Präsidenten treffen könnte, der stellt nicht viele Fragen, schon gar keine unangebracht unangenehmen.

Schließlich: Es ist ja ohnehin alles bestens. Daewoo schickt sich an, die klapprigen Lada- und Moskwitsch-Brigaden aus den Straßen der Hauptstadt Taschkent zu drängen. Im vormaligen Kaufhaus GUM haben Yves Rocher und Sony Einzug gehalten. In einem kleinen Importsupermarkt ein paar Straßen weiter, Dollars willkommen, gibt’s gefüllte türkische Weinblätter in Dosen zu kaufen, gleich neben Mozartkugeln – die Schachtel um den Preis eines gehobenen usbekischen Halbmonatslohns. Und da sind dann noch die neuen Erdöl- und alten Erdgasvorkommen, die das Land an Amudarja und Syrdarja nach dem Glauben seiner Machthaber zu einem „zweiten Kuwait“ prädestinieren. Demokratie, Meinungsfreiheit – ach was. Hauptsache, das Land ist wirtschaftlich und politisch halbwegs stabil, der Rest findet sich. Oder so.


Schirin singt und spielt Klavier dazu. Russische Romanzen nach Dichtungen von Jessenin. Und usbekische Volkslieder. Ihre warme, dunkle Stimme füllt das kleine Wohnzimmer in der Mietskaserne im Zentrum von Taschkent. Japanische Kriegsgefangene haben den Bau errichtet, nach dem Zweiten Weltkrieg. Fassade und Treppenhaus lassen ahnen, dass seither kaum jemand Hand angelegt hat an die stalinistisch-bürgerliche Pracht.

Schirins Stimme würde auch noch ganz andere Räume füllen als die 15 Quadratmeter zwischen Bücherregalen, usbekischen Teeschalen und dem wohlgefüllten Obstteller, der zur Kühlung zwischen Außen- und Innenfenster thront. Doch öffentlich aufzutreten und zu singen, das ist für die Lehrerin am örtlichen Musikkonservatorium undenkbar: Ihr Ruf würde irreparablen Schaden nehmen. So etwas tut eine Usbekin von Anstand nicht. Und daher verströmt sie ihr Talent bei Auftritten im privaten Kreis.

Auch Habiba, Angestellte in einem ausländischen Unternehmen, ist usbekischer Abstammung. Ihr eingeschoßiges Haus in einem alten Randbezirk Taschkents hält alle Annehmlichkeiten westlichen Komforts bereit. Deutsches Shampoo und deutsche Seife inklusive. Im Wohnzimmer nehmen wir auf Stühlen rund um einen großbürgerlich gedeckten Tisch Platz, nicht, wie in solchen Häusern sonst üblich, auf dem teppichbedeckten Boden. Orientalisch sind vor allem die Gastlichkeit, mit der der Fremde empfangen wird, und die kurze Geste des Dankes an Allah vor dem Essen. Nicht zu vergessen die Verwunderung des Hausherrn, Iskander, darüber, dass der Besucher aus dem Westen meint, Männer hätten es leichter im Leben als Frauen. Und Habiba lächelt.

Iskander ist Beamter im usbekischen Innenministerium, eine Profession, über die er nichts erzählen will. „Die Leute haben Angst vor uns“, sagt er. Die Leute – die werden wohl wissen, warum. Und dennoch, es fällt schwer, sich vorzustellen, dass der Enddreißiger, der hier ganz gemütlich seinen Gast unter den Tisch zu trinken versucht, ein gefürchteter Mann sein soll.


Wiedersehen mit Taschkent. Wiedersehen nach mehr als vier Jahren. Damals, im Spätherbst 1993, hatte ein Theaterfestival, getreu der Devise „Ost trifft West“, Gäste aus allen Erdteilen in die usbekische Hauptstadt gelockt. Damals, 1993, war der junge mittelasiatische Staat kaum der sowjetischen Völkerumarmung entronnen gewesen. Heute sind es nicht mehr Kunst und Künstler, es sind Freundschaften, die mich in die Oasenstadt vor den Ausläufern des Tienschan-Gebirges bringen, in die „Stadt aus Stein“, wie Reiseführer – ein wenig voreilig – meist übersetzen: weit und breit kein Stein zu sehen, nur Lehmziegel und unendlich viel Beton; dazu neuerdings auch noch Massen von Asphalt. Islam Karimows Vorstellungen von seiner usbekischen Residenz lassen – in behender Fortschreibung bekannter Lokalkaiserkonzepte – die wenigen alten Viertel unter breiten Boulevards und riesigen Wohnblöcken verschwinden.

Wie wird die Präsidentschaft des Landmaschinentechnikers Jahrgang 1938, der sich so rasant vom lokalen KP-Zentralkomiteesekretär zu einem eingefleischten Usbeken wandelte, dass man meinen konnte, er sei nie irgend etwas anderes gewesen, wie wird dieser Islam Karimow in die Geschichte Taschkents eingehen? Wird man meinen, seine Regierungszeit sei für die Stadt noch verheerender gewesen als das Erdbeben von 1966, das 300.000 Taschkenter obdachlos hinterließ? Oder wird man sich seiner als jenes Mannes erinnern, der Kanalisation und Wasserspülung auch noch in die hintersten Winkel der mittelasiatischen Metropole brachte?


„Wissen Sie, wann die Sowjetunion zerfallen ist?“ Mark Weil, Theaterleiter und Dokumentarfilmer, hat den jungen Taschkentern diese Frage gestellt. Die Antworten, zu hören in Weils Film „Taschkent – Das Ende einer Ära“, beim vorjährigen Amsterdamer Dokumentarfilmfestival uraufgeführt: „Weiß nicht.“ – „Kann mich nicht erinnern.“ – „War das nicht 1991 oder so?“ Dazu ratlose Gesichter, verlegenes Löcheln.

In Wahrheit, so scheint es, hatte die Sowjetunion längst zu existieren aufgehört, als sich Usbekistan im August 1991 für unabhängig erklärte, als die Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten im folgenden Dezember die Sowjetunion auch formell auflöste. Und heute, im Rückblick, ist etwas, was jahrzehntelang unverrückbare Tatsache schien, kaum mehr als ein flüchtiger Spuk.

Selbstredend sind auch in Taschkent Heroen von gestern wie Lenin aus dem Stadtbild verschwunden. Und ein, zwei russische Dichter gleich dazu. Kommunisten, Russen, das ist alles eins. Dafür wachsen Amir-Timur-Statuen aus dem kargen Boden. Amir Timur, im Westen auch Tamerlan genannt, ein geschichtsbuchbekannter Schlächter des ausgehenden 14. Jahrhunderts, der mit seinen vernichtenden Feldzügen die Welt zwischen Moskau, Bagdad und Dehli verwüstete, Gründer des Reichs der Timuriden, dem nach wenigen Generationen – glaubt man gängiger Geschichtsdarstellung – ausgerechnet jene Usbeken den Garaus machten, deren Nachkommen heute dazu angehalten sind, Tamerlan als ihr nationales Vorbild zu verehren.

Freilich: Der Vorrat an völkischen Idolen ist knapp. Da wäre vielleicht noch Ulug Beg, Enkel Tamerlans (also strenggenommen auch kein Usbeke, aber wen kümmert das?), im Unterschied zu seinem aggressiven Großvater ganz und gar kein kriegerischer Herr, sondern Wissenschaftler, vor allem vorzüglicher Astronom. Die Reste seines gewaltigen Observatoriums, vornehmlich das knapp elf Meter lange Stück eines riesigen, in den Felsen geschlagenen Sextanten, verblüffen noch heute jeden Besucher der Timuriden-Residenz Samarkand. Nur leider will das Image des aufgeklärten Herrschers und erklärten Islamskeptikers, das Ulug Beg schließlich auch zum Verhängnis wurde (einer seiner Söhne ließ ihn – wohl im Einverständnis mit der mohammedanischen Geistlichkeit – ermorden), nicht recht ins Konzept eines Staates passen, der seine religiösen Wurzeln gerade wiederentdeckt.

Sonst noch denkmalwürdiges Personal der Geschichte? Wie wär’s mit Ali Schir Nevai, im 15. Jahrhundert Begründer der usbekischen Literatur? Aber dem gedachte man schon zu Sowjetzeiten an jedem dritten Straßeneck. Und der zweite große Dichter des Landes, Hamza Hakimzade Nijazi? Gegenwärtig auch nicht wirklich sockelfähig, denn erstens war er Kommunist, und zweitens bekämpfte er vehement den Islam, insbesondere die Diskriminierung der Frauen; und weil er auch noch die Zerstörung eines islamischen Heiligtums forderte, wurde er Ende der Zwanzigerjahre im usbekischen Fergana-Tal von einer aufgebrachten Menge Gläubiger nach altem Brauch gesteinigt. In demselbsen Fergana-Tal, indem es gut 60 Jahre später, 1989, zu regelrechten Pogromen an der turk-meschetischen Minderheit kam.


Knapp 60 Kilometer Umweg muss man kalkulieren, will man mit dem Auto von Taschkent nach Samarkand reisen. Die direkte Straßenverbindung führt über ein kurzes Stück kasachisches Territorium; und weil die mittelasiatisch Staaten einander beileibe nicht immer grün sind, ist die Passage dieser Strecke fallweise nur mit Sondergenehmigungen möglich, die zu erhalten man nebst Geld vor allem Zeit investieren muss. Also Umfahrung. Mitten durch abgeerntete Baumwollfelder, vorbei an brüchigen Bewässerungskanälen aus Beton. Hier versickert und verdunstet ein kleiner Teil jenes Wassers, das dem 800 Kilometer weiter östlich liegenden Aralsee fehlt. Seit 1960 hat der viertgrößte See der Erde ein Viertel seines Volumens verloren, manch vormaliger Küstenort liegt jetzt fast 100 Kilometer von der Küste entfernt. Folge der brutalen Ausweitung des wasserlüsternen Baumwollanbaus zu Zeiten der Sowjetunion.

Jewgeni, mein Fahrer, lenkt zielstrebig durch kleine Dörfer, vorbei an Wassertürmen, den sowjetischen Minaretts, wie man eins sagte, fährt an dieser Kreuzung geradeaus, biegt an jener ab, als könnte es gar nicht anders sein. Wie findet er sich nur in dieser Ödnis zurecht? Jewgeni ist Mitarbeiter eines kleinen Handelsunternehmens. Als Privatchauffeur von Touristen bessert er sein Gehalt auf. Taschkent-Samarkand-Taschkent, alles in allem zehn Stunden hinter dem Lenkrad auf holprigen Straßen, das bringt nicht einfach nur Geld, sondern Dollars – ein knappes Gut in Usbekistan.

Unvermittelt, auf freiem Feld: ein Schranken, dahinter ein gemauerter Unterstand, davor zwei grimmige Uniformierte. Jewgeni stoppt, steigt aus, verschwindet im Unterstand, kehrt kurz darauf zurück. Der Schranken hebt sich, weiter geht’s. 500 Meter später: wieder ein Schranken, wieder zwei grimmige Uniformierte, wieder dasselbe Prozedere. Bakschisch-Inkasso usbekischer Art. Die Wegelagerer tragen heute Uniform.

Rund drei Autostunden später werden wir in Samarkand sein, werden die Pracht der Seidenstraßenstadt sehen, durch Medresen und Moscheen ziehen und selbstverständlich die Gruft Tamerlans besuchen, die ein schlitzohriger Fremdenführer – extra für uns, wie er behaupten wird, und natürlich nur gegen ein Extraextrahonorar – öffnen wird. Wir werden Tamerlans Sarg sehen und werden uns an Tamerlans Fluch erinnern: Wer den Sarg öffne, werde viel Unglück über das Land bringen, warnten die Ortsansässigen, als sich der sowjetische Archäologe Gerasimow anschickte, die sterblichen Überreste des vormaligen Schreckens der Welt zu untersuchen. Die Exhumierung begann am 21. Juni 1941. Wenige Stunden später erreichte Samarkand die Kunde vom Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion.


Olga weiß noch, wie das war, damals, als sie mit ihrem Mann aus Nowosibirsk nach Usbekistan übersiedelte. „Wir kamen nach Taschkent, weil es hier Wohnungen und Arbeit für uns gab. Damals, vor 20 Jahren, war das eine offene, eine freie Stadt. Aber heute?“

Olga ist Russin. 1990 lebten 700.000 Russen in der Zwei-Millionen-Stadt Taschkent. Und jetzt? „Ich weiß nicht, viele Freunde sind weggezogen. Es ist sehr eng geworden hier“, meint Olga. Uns sie erzählt vom usbekischen Nationalismus, vom Vordringen des Islam – und davon, dass sie so bald wie möglich zurückkehren will nach Nowosibirsk. „Das Leben hier hat keine Zukunft.“

Die Russen, das sind die vormaligen Kolonialherren. Einstmals – gezwungenermaßen – wohlgelitten, lässt man sie heute, da man sie nicht mehr braucht, ihre Entbehrlichkeit fühlen. Heute haben andere das Sagen: Araber, die den Wiederaufbau der islamischen Bildungseinrichtungen finanzieren; da und dort Türken, die die Meriten des Wohlstands westlicher Art vom Plastiksackerl bis zum Fitnesszentrum ins Land bringen.

Iraida ist Russin. Wie Olga. Doch Iraida ist in Taschkent geboren, in Taschkent aufgewachsen. Deutschlektorin an der Universität. Vor vier Jahren, da war sie entschlossen zu bleiben. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Obwohl es immer einsamer wird um sie. Mittlerweile hat sie einen usbekischen Pass, ist zur Ausländerin in ihrem geliebten Sankt Petersburg geworden, der Stadt, aus der ihr Großvater sich einst nach Süden aufmachte, in ein fernes, unbekanntes Land des mittleren Asiens.

Auch Irina ist Russin, Anfang 20, Sprachstudentin, meine Begleiterin durch das Taschkenter Museum der bildenden Kunst. Kundig erklärt sie die Bedeutung usbekischer Trachten, die Funktion usbekischer Möbel und Gerätschaften. Irina weiß Bescheid; ihr Freund ist Usbeke, aus streng islamischer Familie stammend. Das große Multikulti-Glück, Irina? „Wissen Sie, ich bin unter anderen Voraussetzungen aufgewachsen, und ich kann mir auch nicht vorstellen, einen Schleier zu tragen. Das ist unter diesen Umständen ein Problem.“


Stalins Zitrone. Ein Märchen aus Usbekistan. Oder doch keines? Einst fiel es dem Genossen Stalin bei, Gefallen daran zu finden, seinen Tee mit Zitrone zu würzen. Sogleich sandte er Boten in die entferntesten Winkel seines gewaltigen Reiches, allüberall Zitronenbäume pflanzen zu lassen. Und alle, alle pflanzten Zitronenbäume: im tiefsten Sibirien und auf den Gipfeln des Kaukasus, an der Wolga und am Baikalsee. Doch weil die zarten Bäumchen dort wie da, hier wie dort verdorrten, verließ den großen Stalin bald die Freude an der sauren Frucht. So sandte er abermals Boten in die entferntesten Winkel seines Reiches, zu verkünden, er sei der Zitrone überdrüssig und wolle keine mehr sehen. Und alle, alle im tiefsten Sibirien und auf den Gipfeln des Kaukasus, an der Wolga und am Baikalsee schnitten ihre verdorrten Zitronenbäumchen zu Scheiten, und fröhliche Zitronenholzfeuer erhellten allüberall die kalten sowjetischen Winternächte.

Nur ein kleines usbekisches Bäuerchen hielt unbeirrbar an seinen Bäumchen fest. Vielleicht, dass die Kunde der Boten nicht bis in seine ländliche Abgeschiedenheit gedrungen war, vielleicht auch hatte er seine Zitronen so sehr liebgewonnen, dass er sich nicht mehr von ihnen trennen mochte. Anfangs erging es zwar auch ihm wie den meisten anderen, die sich in Stalins Reich an der störrischen Köstlichkeit versucht hatten: Die bitteren Fröste des Winters rafften die Bäumchen hinweg. Doch das Bäuerchen ließ sich nicht entmutigen, Jahr um Jahr gediehen seine Bäumchen besser und besser. Und so kommt es, dass sich heute in den Basaren von Taschkent, Samarkand und Buchara Zitronen türmen, wie sie die Welt jenseits von Amudarja und Syrdarja nicht kennt: gelb wie die Sonne, glatt wie die Wange einer Jungfrau, mit einem wächsernen Schimmer wie von Alabaster. Wer sie einmal gekostet, wird das Tänzeln ihres Geschmacks auf der Zunge niemals vergessen.


„Sprechen Sie Englisch?“, fragt Oleg. Oleg spricht Englisch, nicht gerade oxfordmäßig, aber sehr viel besser, als der Durchschnittsösterreicher Russisch spricht. Oder gar Usbekisch. Oleg arbeitet in einer meteorologischen Station in Tschimgan, dem usbekischen Wintersportzentrum an den Ausläufern des Tienschan-Gebirges, 80 Kilometer nordwestlich von Taschkent. Und sobald Schnee fällt, verdient er sich ein Zubrot als Skilehrer und Tourenführer. „Sehen Sie, Helikopter-Skiing! Da, das waren australische Gäste, und hier, das waren Engländer.“ Olegs Fotosammlung ist eindrucksvoll. Wie das Weinlager, das er in einer Holzhütte eingerichtet hat. „Für die tote Saison, wissen Sie, als Überbrückungshilfe.“ Gleich nebenan führt ein Sessellift in Gipfelhöhen. Und ein paar Meter weiter ragt ein Hotelblock in den usbekischen Gebirgshimmel. Die ganze Region: ein Fremdenverkehrsparadies aus sowjetischen Tagen. Wenige Kilometer Richtung Tal liegt der Tscharvak-Stausee, des Sommers beliebter Badeort, umringt von steilen Berghängen. Über seinem Schotterufer: die Stahlbetonskelette zweier Hotelpyramiden. Der Lauf der Zeit hat ihren Bau frühzeitig beendet – und von dem riesigen Lenin-Relief neben der Staumauer nur das Traggerüst zurückgelassen.

Igor, Kaufmann aus Taschkent, hat mich hierher begleitet, mit seinem Sohn, Michail: Der hat, assistiert von seinem Herrn Papa, den zugigen Lada aus der Oasenstadt nach Tschimgan chauffiert. Dass Michail erst 16 ist und keinen Führerschein besitzt, werde ich ein paar Stunden später erfahren: Ein Polizist wird uns zur Seite winken, mitten in Taschkent, Michails Gesicht wird sich röten, Igor wird aus dem Wagen steigen, wird sich diskret mit dem Polizisten zurückziehen, einige Geldscheine werden den Besitzer wechseln – und Igors Sohn wird unbehelligt weiterfahren dürfen, unter den Augen des Gesetzes. Augen, die sich nach Bedarf öffnen – oder schließen.


Nasreddin Hodscha muss ein weiser Mann gewesen sein. Falls er jemals gelebt hat. Einmal, des Nachts, erzählt man, sei ihm der Herrscher begegnet. Und um einen Scherz zu machen, habe der gerufen: „Nasreddin, bist du das? Im Dunkeln glaubte ich, du seist ein Hund.“ Und Nasreddin habe erwidert: „Ach, Ihr seid das, Herr! Im Dunkeln habe ich Euch nicht erkannt: Ich glaubte, Ihr seid ein Mensch.“

Nasreddin Hodscha muss ein weiser Mann gewesen sein. Falls er jemals gelebt hat. In die Geschichte ist er als „türkischer Eulenspiegel“ eingegangen. Was das usbekische Buchara nicht daran hindert, sich selbst als Geburtsstadt Nasreddins zu preisen. Hier sitzt der Schelm heute, in Erz gegossen, auf seinem Esel inmitten eines der schönsten Plätze der Stadt, des Ljabi-Chaus, und winkt den alten Usbeken zu, die vor ihm am Rande des alten Wasserreservoires ihren Tee schlürfen.

Man könnte sich leichteren Herzens von seinen Freunden in Usbekistan verabschieden, wüsste man Nasreddin überall dort, wo heute Amir Timur herrisch ins Land blickt.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 10. Jänner 1998

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