Kernkraftwerk Zwentendorf: „Grün samma söba“

Vor 20 Jahren stimmte Österreich über das Kernkraftwerk Zwentendorf ab. Was war, was ist und was sein wird – eine Nachschau.


Dieser schwarze Fleck auf der Landkarte. Gleich daneben der Punkt im Kreis: das Zeichen für Schlot. Alles zusammen ein paar Quadratmillimeter groß im Maßstab eins zu 50.000. Die Nummer 39 trägt das Kartenblatt, „Tulln“, herausgegeben vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen. Neuaufnahme: 1961. Kartenfortführung: 1994. Einzelne Nachträge: 1997.

Alles hat hier einen Namen, Dörfer und Städte, Berge und Täler, Wiesen Wälder, Weiler, da und dort einzelne Fluren. Nur der schwarze Fleck mit seinem Schlot, der liegt namenlos an der Donau, als schämte man sich seiner. Freilich: Wie sollte man nennen, was nie sein durfte, was es war – ein Kernkraftwerk ohne Kern und ohne Kraft, ein Werk, dem sein Sinn und sein Zweck abhanden kamen am 5. November des Jahres 1978?


Als Bundeskanzler Josef Klaus 1966 in seiner Regierungserklärung ankündigte, „den Möglichkeiten einer friedlichen Verwendung der Kernenergie besondere Aufmerksamkeit“ zuwenden zu wollen, da war die Gedankenwelt der Wirtschaftswunderjahre noch in Ordnung. Dass alles weiter wachsen würde, war keine Frage, nur wie schnell wie weit, stand zur Disposition. Und der Generaldirektor einer heimischen Elektrizitätsgesellschaft konnte frohgemut verkünden, er hielte es für besser, „durch Ausweitung des Stromkonsums die Ausbaumöglichkeit neuer Kraftwerke zu erreichen, als den Neubau von Kraftwerken zu drosseln“. Energiesparen, davon hatte noch nie einer gehört, und Umwelt gab’s genug, wer hätte da was schützen wollen.

Im April 1968 wurde von der Verbundgesellschaft und den Landeselektrizitätsgesellschaften eine Kernkraftwerk-Planungsgesellschaft gegründet. Und alsbald brach ein edler Wettstreit um das atomenergetische Jus primae noctis aus: Welches Bundesland würde Österreich kernkraftvoll deflorieren dürfen? Schon im Mai 1968 drängte FPÖ-Obmann Friedrich Peter in parlamentarischen Anfragen darauf, das künftige KKW in seiner oberösterreichischen Heimat zu situieren. Es war derselbe Friedrich Peter, unter dessen Obmannschaft die FPÖ in den Siebzigerjahren zum Atomkraftgegner mutierte, derselbe Peter, der nach dem Ausscheiden aus der Politik im Jahr 1986 kurzzeitig zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Verbundgesellschaft avancierte, derselbe Peter, der heute von damals nichts mehr hören will. Nur ein „Ich wünsche zu schweigen“ lässt er sich am Telefon entlocken.

Das Rennen um das erste österreichische Kernkraftwerk sieht Niederösterreich als Sieger. Zwar findet sich im Energiekonzept der ÖVP-Alleinregierung im Mai 1969 noch kein Hinweis auf den Standort, aber schon wenige Monate später trifft die Kernkraftwerk-Planungsgesellschaft in einer Generalversammlung formell ihre Wahl: Zwentendorf an der Donau heißt die glückliche Gemeinde, die Österreich ins Atomzeitalter katapultieren darf. Bemerkenswert daran: „Die Tatsache, dass das hydrogeologische Gutachten für Zwentendorf schon 1962 vernichtend ausgefallen war und dass Sicherheitsüberlegungen, die gegen den Bau eines Atomkraftwerks in der Nähe eines Ballungszentrums hätten sprechen müssen, nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden, scheint dafür zu sprechen, dass die Eigeninteressen der Atomlobby schwerer wogen als sicherheitstechnische oder medizinisch-ökologische Überlegungen“, meint dazu Christian Schaller 1987 in seiner Dissertation über die „Österreichische Kernenergiekontroverse“. Da hat die „Atomlobby“ schon den Reaktorunfall von Tschernobyl hinter sich – und das Kernkraftwerk Zwentendorf ist Geschichte.


Ein „Servas“ hier, ein Händeschütteln da: Wenn Hermann Kühtreiber durch sein Zwentendorf schreitet, liegt joviale Volksverbundenheit in der Luft. „Ich behaupte, dass ich 80, 90 Prozent meiner Bürger persönlich kenne“, behauptet er, der Herr Bürgermeister – eine beachtliche Leistung in einer 4000-Einwohner-Gemeinde. Im Café Leitzmüller, Hauptstraße 15, singt er bei einem kleinen Bier sein Hohelied auf Zwentendorf: auf das neue Sozialzentrum und die Sozialdienste, auf den Schulbus und die Sozialtarife für Mindestrentner. Zwentendorf sei eben „seit 1921 sozialdemokratisch“. Na dann.

Und woher kommt das Geld für all die guten Gaben? Die Gemeinde – scheint’s – verdient nicht schlecht an ihrem, sagen wir: unverkrampften Verhältnis zu Industrie und Energiewirtschaft. Da wäre einmal die „Donau-Chemie“ im Gemeindeteil Pischelsdorf: Hier werden Schwefelsäure, Kunstdünger, Gipsplatten, seit einiger Zeit auch Latex erzeugt. „Unser größter Arbeitgeber, mehr als 200 Arbeitsplätze“, meldet Hermann Kühtreiber stolz. „Und dann haben wir drei Kraftwerke: das Donaukraftwerk Altenwörth, da sind auch Gemeinden nördlich der Donau betroffen; dann das Kernkraftwerk, leider heute mit keinen Auswirkungen mehr für die Gemeinde, sprich Steuern, Arbeitsplätzen; dann, als Ersatz dafür gebaut, das Kohlekraftwerk Dürnrohr – und das größte Umspannwerk Mitteleuropas.“ Mit den Klein- und Mittelbetrieben insgesamt 900 Arbeitsplätze: „Das ist für eine Gemeinde unserer Größe recht gut.“

Eine Chemiefabrik, eine Kraftwerksballung sondergleichen und, wenn schon, denn schon, demnächst auch noch eine Müllverbrennungsanlage, das alles auf kaum 54 Quadratkilometer Gemeindefläche: eine Schreckensszenerie für jedes grün pochende Herz. „Ich hab‘ angefangen als Umweltgemeinderat“, kontert Hermann Kühtreiber ungerührt. „Meine Behauptung ist immer: Grün samma söba. Und wir sind in der glücklichen Lage, dass das auch unsere Bevölkerung so sieht. Unsere Bürger sind sehr kritisch, aber sie sind auch, wie soll man sagen, vernünftig.“ Ein Beispiel? „Durch seriöse, offene Informationsarbeit ist es uns gelungen, dass in einer Volksbefragung mit drei Viertel Beteiligung mehr als 72 Prozent für die Müllverbrennung waren. Das Gegenteil ist der Schotterabbau in der Au, den das Stift Herzogenburg plant: Da gibt’s helle Empörung.“ Die Au lasse man sich nicht auch noch „anknabbern“: „Es ist eben immer was los in Zwentendorf.“


Als am 10. Februar 1970 die „Gemeinschaftskraftwerk Tullnerfeld Ges. m. b. H.“, kurz GKT, gegründet wird für die „gemeinsame Errichtung und den Betrieb des ersten österreichischen Kernkraftwerkes bei Zwentendorf“, ist Josef Klaus gerade noch Bundeskanzler. Doch auch der wenige Wochen später folgende Machtwechsel zur SPÖ und zu Bruno Kreisky ändert – sieht man von einigen parteitaktischen Scharmützeln im Frühjahr 1971 ab – nichts am offiziellen Atomkurs.

Freilich, es gibt in jenen Anfangstagen schon Atomkraftgegner, nicht viele, aber immerhin. Sternfahrten und Protestkundgebungen am Bauplatz werden organisiert, doch 200, 300 Unentwegte sind keine Streitmacht, mit der sich politisch punkten ließe. Und als der Wiener Umweltschützer Walther Soyka, mit 902 Unterschriften in der Tasche, bei einer Zwentendorf-Bauverhandlung im März 1972 im Namen seiner Vollmachtgeber Einwände vorbringen will, kann man ihn aus dem Saal werfen, ohne dass es eine breitere Öffentlichkeit sonderlich interessiert.

Doch in dem Maß, in dem sich die Betonkubaturen an der Donau in den Himmel schieben, wächst auch der Widerstand dagegen. Die Zeit arbeitet für die Kernkraftgegner. 1972 veröffentlicht der „Club of Rome“ seine Studie über die „Grenzen des Wachstums“, 1973/74 erschüttert die Erdölkrise die westliche Welt, beides Ereignisse, keineswegs unmittelbar geeignet, den Nutzen der Atomenergie in Frage zu stellen, eher im Gegenteil, aber mitentscheidend für einen allgemeinen Gesinnungswandel: Die Welt der Wirtschaftswunderjahre geht unter, der Glaube an ewigen Fortschritt und ewiges Wachstum weicht dem Zweifel, ob und wie man die Zukunft werde bewältigen können, die Magie der Industrie ist dahin, das große technisch-naturwissenschaftliche Räderwerk, eben noch in kindlicher Begeisterung verehrt, wird als Moloch verdammt, der die Menschheit zu verschlingen droht. Ein dümmlich-naives „Alles ist machbar!“ wandelt sich über ein dumpfes „Was brauch‘ ma des?“ in das ultimative „Nichts geht mehr!“ unserer Tage.

Gleichzeitig beginnt sich auch das demokratische Gefüge Österreichs zu verändern. Freda Meissner-Blau erinnert sich: „Das war ein Aufbruch des Bürgerseins im Sinne des Citoyens, des Mitredenkönnens, Mitgestaltenkönnens, Mithandelnkönnens. Plötzlich ist der aufrechte Gang aufgekommen, der Obrigkeitsstaat hat erste Risse gezeigt.“

Noch sind die KKW-Gegner auf kleine und kleinste regionale Grüppchen verteilt und werden je nach Bedrohlichkeit als Spinner oder Staatsfeinde betrachtet und behandelt. Doch die Anti-Atom-Kräfte konsolidieren sich: In Oberösterreich erreicht eine „Bürgerinitiative gegen Atomgefahren“, dass die Pläne für das zweite österreichische Kernkraftwerk, in Sankt Pantaleon vorgesehen, in den Schubladen der Elektrizitätswirtschaft verschwinden. Anhaltende Demonstrationen in Vorarlberg gegen das Schweizer Kernkraftwerk Rüthi nötigen die österreichische Regierung gar zu einem offiziellen Protest bei den Schweizer Kollegen. Im Mai 1976 schließlich einigen sich Anti-Atom-Aktivisten aus ganz Österreich auf ein gemeinsames Vorgehen im Rahmen der „Initiative Österreichischer Atomkraftwerksgegner“.


Die ganze Stimmung damals, diese Aufbruchsstimmung! Von dem Kernkraftwerk ist ja eine große Begeisterung ausgegangen.“ Hans Weiker, von 1967 bis 1990 SP-Gemeinderat in Zwentendorf, weiß noch genau, wie sie waren, die Tage der KKW-Euphorie. „Das war eine Art Goldgräberstimmung. Die Wirtshäuser waren voll, es ist auch sehr viel über das Kraftwerk gesprochen worden. Das war einfach etwas Gutes – sofern keine Fremden gekommen sind. Fremde waren ja meistens Gegner: Wer verirrt sich sonst nach Zwentendorf?“ Hans Kellner, damals VP-Landtagsabgeordneter und Zweiter Vizebürgermeister der Kernkraftwerksgemeinde in spe, hatte die Gegner gleich in der eigenen Familie: „Von meiner Frau angefangen über die beiden Töchter und den Schwiegersohn waren alle dagegen. Ich hab‘ das nicht unter den Teppich gekehrt, das war allgemein bekannt, auch im Landtag: der Kellner, der arme Hund. Aber das waren vielleicht 20, 25 Prozent. Der Rest war hier dafür. Es gab ja keinen Grund, dass die Stimmung umgeschlagen hätte, die Infrastruktur ist bei uns bestens unterstützt worden, weil doch Geld im Ort geblieben ist.“ Tatsächlich: Geld spielt im Zwentendorf jener Tage keine Rolle. Und so wird nicht nur auf den 15 Hektar des Atommeilers bei Stromkilometer 1976,5 eifrig gebaut, sondern auch im Ort selbst: eine neue Volksschule mit Hallenbad, ein neues Veranstaltungszentrum, neue Wohnungen. Jubel, Trubel, Heiterkeit in der aufstrebenden Atomgemeinde.

Alexander Althann ist einer von jenen, die nicht in den Begeisterungschor einstimmen. Der Herr über Schloss Zwentendorf, der wenig später sein Gut in einen biologisch-dynamischen Vorzeigebetrieb verwandeln wird, zählt mit seiner Frau Maria zu den Kernkraftgegnern. „Unsere Situation war sehr schwierig“, erzählt Maria Althann. „Der Schwiegervater hatte den Grund verkauft, auf dem das Kraftwerk gebaut wurde. Und da ist natürlich der Vorwurf gekommen: Erst machen sie das Geld damit, und dann sind sie dagegen. Da hat es schon Mut gebraucht, trotz allem nein zu sagen.“ Die Leute seien „ungeheuer unter Druck gesetzt worden“: „Und jeder hat doch mindestens einen Verwandten gehabt, der im Kraftwerk gut bezahlt worden ist, da hat’s natürlich geheißen: Um Gottes willen, seid dafür, sonst verlier‘ ich den Job. Das war enorm emotionsgeladen.“ Sind Wunden geblieben? Im Dorf sei es „kaum mehr ein Thema“, meint Maria Althann. „Nach Tschernobyl waren die meisten ja doch froh“, ergänzt ihr Mann. „Und was die Gemeindekassa betrifft: Da ist ja alles eitel Wonne durch die anderen Kraftwerke. Jetzt kommt die Müllverbrennung: Um diese Dreckschleuder reißen sie sich, aber eine Schottergrube, ja da besetzen wir die Au. Dort gibt’s Geld, da nicht, das ist das Einzige, was zählt.“


Frühling 1978. Die Zwentendorf-Debatte wirbelt die Parteienlandschaft durcheinander. Eine großangelegte Informationskampagne der Regierung hat sich als Fehlschlag erwiesen, die Zahl der Gegner wächst, gleichzeitig muss die Regierung in ihrem „Bericht betreffend die Nutzung der Kernenergie für die Elektrizitätserzeugung“ eingestehen, dass die Atommüllfrage ungelöst ist. „SPÖ und ÖVP starteten Versuche, der jeweils anderen Partei die (Mit-)Entscheidung über die zunehmend umstrittene Materie zuzuspielen“, meint der Innsbrucker Politologe Bernhard Natter in seiner Studie „Die ,Bürger‘ versus die ,Mächtigen‘„ (nachzulesen in dem von Anton Pelinka herausgegebenen Band „Populismus in Österreich“). „Die auf einen Pro-Atom-Kurs festgelegte Regierung arbeitete auf einen Parlamentsentscheid hin, der sie von der alleinigen Verantwortung befreien sollte. Die ÖVP, die sich an Hand der Kernkraftfrage als Opposition zu profilieren suchte, wollte der Regierung die alleinige Verantwortung übertragen.“ Kurz: Die ÖVP schien sich, einem parteitaktischen Kalkül folgend, klammheimlich von dem seinerzeit selbst in die Welt gesetzten Kernkraftwerk zu absentieren.

Eine Darstellung, der Josef Taus, damals ÖVP-Obmann, heute vehement widerspricht: „Eine Distanzierung der ÖVP hat’s nicht gegeben, es hat eine Distanzierung bestimmter Teile der Partei gegeben, das war aber auch in der SPÖ so.“ Nur: Dort hätten „die Gewerkschaften gesagt, das muss kommen“: „Bei uns hat’s eine so starke Gruppe nicht gegeben.“ Auch nicht die Wirtschaft? „Die ist nicht stark genug gewesen.“ Und wer waren dann die so viel mächtigeren Gegner in der ÖVP? Da fallen Josef Taus zuallererst „die sehr stark in der Partei an Einfluss gewinnenden Frauen“ ein. Frauen-Power in der ÖVP – wer hätte das gedacht?

Ein Stück weiter unten in der Parteihierarchie, etwa als Zweiter Vizebürgermeister von Zwentendorf und VP-Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtag, sah man die Dinge etwas weniger differenziert. Hans Kellner: „Ich hab‘ damals zum Landeshauptmann Maurer gesagt: Du kannst mir den Buckel runterrutschen, wenn du glaubst, ich tanz‘ da mit. Ich bin bis jetzt mit der Fahne marschiert: saubere Energie, sichere Arbeitsplätze. Und die Fahne lasse ich mir nicht aus irgendwelchen Überlegungen innerhalb der ÖVP aus der Hand nehmen.“

Wie auch immer: Die Verhandlungen zwischen den Großparteien scheitern, am 22. Juni beschließt das SP-Parteipräsidium, eine Volksabstimmung über die Inbetriebnahme von Zwentendorf abzuhalten. Und plötzlich sind alle schon immer für diese Lösung gewesen: Bruno Kreisky, der noch im Jänner eine Volksabstimmung über die Verwendung von Kernenergie für „ungeeignet“ gehalten hat, behauptet kühn, diesem Gedanken „seit je viel Sympathie entgegengebracht“ zu haben; Josef Taus reklamiert die Idee des Volksentscheids für sich und die ÖVP – und hat recht: Taus ist es, der bereits im März 1977 eine Volksbefragung anregt. Und sich heute wiederum als „strikter Gegner einer Volksabstimmung“ zu erkennen gibt. Was er für seine Partei nicht so recht in Anspruch nehmen will, vermutet Taus bei seinem damaligen politischen Gegner Kreisky: „Ein taktisches Kalkül: dass, wenn er sich da draufsetzt, dass er dann einen großen Sieg erringt, was ja durchaus nicht auszuschließen war. Aber es ist eben total schiefgegangen.“ Josef Staribacher andererseits, 13 Jahre lang an der Seite Kreiskys Handelsminister, sieht vor allem hehre Motive in den Wendungen seines Kanzlers: „Kreisky wollte die Gesellschaft mit Demokratie durchfluten. Ich war da nicht so überzeugt. Aber wenn dann eine Aktion so stark wird wie die Anti-Atom-Bewegung . . .“

Festzuhalten bleibt: Als Kreisky im Oktober 1978 sein Kanzlerschicksal in sphinxischer Eleganz mit dem Zwentendorf-Plebiszit verknüpft („Ich möchte nicht sagen, dass ich sicher nicht zurücktrete, wenn die Volksabstimmung mit ,Nein‘ ausgeht“), ist die Frage ja oder nein zur Kernenergie längst keine Sachfrage mehr, sondern Gegenstand eines parteipolitischen Machtpokers im Vorfeld der 1979 anstehenden Nationalratswahlen. Der Einsatz in diesem Spiel: ein weitgehend fertiges Kernkraftwerk um siebeneinhalb Milliarden Schilling – und die Zukunft von 200 Arbeitern und Angestellten in der Zwentendorfer Au.


Ausgenommen Bauleitung“ steht auf der Tafel unter dem Parkverbotsschild. Die kleine Barackensiedlung, die man hinter der Kernkraftwerksbaustelle, direkt an der Donau, seinerzeit aus dem Auboden gestampft hat, ist heute eine Geisterstadt. Eschen und Pappeln brechen durch den Asphalt, ein Tennisplatz liegt netzlos und verwaist, ein Stück weiter ein zugewucherter Hydrant, abgeräumte Fundamente, Glassplitter. Das ist die Visitenkarte, mit der sich der einstige Stolz der heimischen Energiewirtschaft Jahr für Jahr rund 50.000 Radtouristen präsentiert, die, von Passau kommend, die Donau entlang nach Wien strampeln. Kein Schild, nichts erklärt ihnen, wozu einst ein paar Pedaltritte weiter monumentale Betonmassen in die Au gewuchtet wurden, und der Pfeil, der sie ins vormalige Verwaltungsgebäude des Kraftwerks weist, lädt nur zu einer Rast im „Radlertreff“, der sich hier nebst einer Gendarmerieschule im Schatten des 110 Meter hohen Abluftkamins einquartiert hat.

Ingenieur Figl empfängt mich an der Rezeption. Interview gebe er keines, das sei Sache der Geschäftsführung, sagt er knapp. Doch es spricht ohnehin für sich, wie er durch die Anlage zieht, vorbei an der Lücke, die der Großtransformator hinterlassen hat, als man ihn in ein deutsches Schwesterkraftwerk transportierte, hinauf bis über den Reaktordruckbehälter, hinunter wieder in den Turbinenraum, dem eine Turbine und der Großgenerator mittlerweile abhanden gekommen sind.

Herr Figl zeigt alles: die Löcher, die heute sind, wo einst im Kontrollraum Messinstrumente waren, in Plastik gehüllte Anlagenteile, den Deckel des Reaktordruckgefäßes, Nirosta-Glanz und hin und wieder ein Fleckchen Rost – „ohne jede technische Bedeutung“, wie er schnell versichert -, auch die frischen Schnitte dort, wo Siemens Materialproben entnommen hat, um sie mit anderen, gleich alten zu vergleichen, aus Kraftwerken, denen ein Zwentendorf-Schicksal erspart geblieben ist. Noch immer scheint Figl zu staunen, dass es wirklich vorbei ist mit der Atomherrlichkeit. Und irgendwie mag man nach dieser Begegnung keinen Zwentendorf-Scherz mehr hören, nicht jenen vom einzigen Kraftwerk der Welt, das Strom nicht erzeugt, nur verbraucht, und auch nicht den vom Kernkraftwerksmodell im Maßstab eins zu eins.

Heute arbeitet Figl im Kraftwerk Korneuburg, nur zur Wartung kehrt er dann und wann zurück nach Zwentendorf. Seine Kollegen von einst haben sich in alle Winde zerstreut: Manche sind irgendwohin ins Ausland gegangen, andere haben am Kohlekraftwerk Dürnrohr mitgebaut. Wieder andere harrten jahrelang dort aus, wo man ihnen ihre Zukunft versprochen hatte, pflegten ein Kraftwerk, das immer gewisser einem Schicksal als Ersatzteillager und Prüfobjekt entgegendämmerte. Volksbegehren pro und kontra Zwentendorf wurden initiiert, Umbaupläne in ein Gaskraftwerk gewälzt, doch nichts geschah. Im Dezember 1985 erhängte sich einer der beiden GKT-Direktoren, Friedrich Staudinger. Berufliche Motive für den Selbstmord seien auszuschließen, wurde danach offiziell verkündet. So kategorisch glaubt das keiner, den man danach fragt.


Die Expertenhörigkeit, die sei früher viel stärker gewesen, meint Heinz Högelsberger, Mitarbeiter von „Anti Atom International“: „Heute ist jedem klar: Man kann für und gegen alles einen Experten kriegen.“ Diesen Erkenntnisprozess hat die Zwentendorf-Debatte ohne Zweifel nachdrücklich gefördert: Wie sich da honorige Universitätsprofessoren coram publico beflegelten, wechselseitig als Lügner, selbsternannte Fachleute oder schlicht als korrupt abkanzelten, das hatte man in Österreich bis dahin nicht erlebt. Die Gräben, die hier aufgerissen wurden, die sollten nicht so schnell verschwinden. Heinz Högelsberger: „Am Institut für Geologie hat es, als ich zu studieren angefangen hab‘, 1979, zwei Professoren gegeben: zum einen Professor Tollmann, den Zwentendorf-Gegner, zum anderen Professor Frank, der in jener Arbeitsgruppe war, die für das Endlagerprojekt Kandidaten ausgesucht hat. Die waren fast prinzipiell konträrer Meinung. Es gab ein Lagerdenken: Das hat das Institut zehn, 15 Jahre lang überschattet.“

„Desaster Zwentendorf“ nannte Alexander Tollmann Jahre später sein Buch über die Anti-Atom-Bewegung. Tatsächlich mündeten die Vorgänge rund um das Kernkraftwerk in ein Desaster, unter anderem in eines für die Wissenschaft – und für ein aufgeklärtes Bild von Welt. Die Vernunft, die die Befürworter mit düsteren Prognosen prügelten bis hin zu der Behauptung, Strom aus Kernkraftwerken sei unabdingbar, „damit die Lichter in den Wohnungen und Büros nicht verlöschen, damit Arbeitsplätze und Existenz für Millionen gesichert sind“, traktierte die Zwentendorf-Gegnerin Elisabeth Schmitz mit geschulterten Kindersärgen, die Anti-Atom-Bewegung insgesamt mit einem Plakat, auf dem gleich der Allmächtige in die irdische Wählerevidenz reklamiert wurde: „Bitte lieber Gott – sag nein zu Zwentendorf!“

„Wenn ich das sehe, krieg‘ ich noch heute Gänsehaut“, meint Freda Meissner-Blau. „Mir ist es schon damals nicht gut damit gegangen. Aber ich hab‘ es selbst benützt, hab’s an Kirchentüren im Waldviertel genagelt. Die Tatsache, dass es Effekt gehabt hat, macht’s nicht behaglicher.“ Und warum dann lieber den lieben Gott beschwören als Argumente vorbringen? „Weil wenig Interesse an rationalen, sachlichen Informationen besteht. Mit emotionalen Sprüchen dagegen findet man Gehör. Es ist ein Dilemma.“ Auch Josef Staribacher sieht die Emotionalisierung von damals mit gemischten Gefühlen: „Die war ja ganz, ganz hart, diese Auseinandersetzung. Das war eine wichtige Erkenntnis für mich: Aus solchen rein ökonomischen Entscheidungen kann ein derartiger Hass entstehen, dass ich sag‘: Zahlt sich das aus?“

Gewiss: Österreich hat sich den Einstieg in eine Technologie erspart, die heute umstrittener ist denn je. Dass diese Entscheidung vornehmlich einer Mischung aus dumpfen Ressentiments und parteipolitischen Machtspielen zu danken war, sollte auch die Freude jener mindern, die es eh schon immer wussten. Und dass sich die lobenswerte Lust des Wählervolks, auch zwischen Wahlterminen an sachpolitischen Entscheidungen mitzuwirken, mittlerweile da und dort in technik- und wissenschaftsfeindliche Querulanz fortentwickelt hat, muss zu denken geben.


Ein „Museum der Dummheit“ (Heinz Högelsberger), das Kernstück einer „Energiemeile“, auf der die wichtigsten Methoden der Energiegewinnung präsentiert werden (Hermann Kühtreiber), oder einfach „abreißen“ (Hans Weiker): An Vorschlägen für die Zukunft des Kernkraftwerks mangelt es nicht; Burkhard Hofer und die GKT haben anderes vor: „Die Gesellschafter haben im Jahr 1994 beschlossen, den Standort zu sichern für ein Energieprojekt der Zukunft.“ Derzeit freilich gebe es „keine Energie- oder sonstigen Projekte“, man beschränke sich „auf die bestmögliche Verwertung“ des Vorhandenen.

Hofer, der von Maria Enzersdorf bei Wien, vom Sitz der „Energieversorgung Niederösterreich AG“ aus die kaufmännischen Geschicke der GKT lenkt, und sein für den technischen Bereich zuständiger Mitgeschäftsführer, Heinz Satzinger, residierend beim Verbund in Wien, können sich mittlerweile über einige lukrative Geschäftsabschlüsse freuen. Burkhard Hofer: „Wir haben einen Großtransformator verkauft, einen Generator verkauft und konnten gute Erträge erzielen. Derzeit überwiegen die Einnahmen die Ausgaben.“ Die Ausgaben nämlich für die Instandhaltung der Anlage, die sich noch immer auf „zehn Millionen Schilling pro Jahr“ belaufen. Über das „Ausscheiden des letzten Mitarbeiters“ habe man sich Ende letzten Jahres geeinigt. Und im Übrigen suche eine Firma namens IDPC Interessenten für die konventionellen Anlagenteile: „Die hat eine Reihe von Projekten ausfindig gemacht, für die diese Geräteteile benötigt werden, hat allerdings mit einem Abschluss noch keinen Erfolg gehabt.“

Besuch bei der „International Development and Promotion Company Ltd.“ in der Wiener Vorderen Zollamtsstraße. Michael Machura empfängt den Eindringling mit distanzierter Höflichkeit. Nein, eine Tonbandaufzeichnung des Gesprächs erlaube er nicht, und mitzuschreiben sei sinnlos, weil dies und jenes und überhaupt im Grunde alles ohnehin nicht veröffentlicht werden dürfe. Also sitzen wir gemeinsam im IDPC-Büro und schweigen einander an. Eine gute Stunde lang.

Zeit genug, sich auszumalen, was alles Michael Machura erzählen könnte: von seinen russischen Geschäftspartnern, mit denen ein Vertrag schon unterschrieben war, von einer mysteriösen Depesche aus Deutschland, in der man den Verdacht äußerte, die Zwentendorf-Teile könnten via Russland an ein iranisches Kernkraftwerk verschoben werden, von der anschließenden Verweigerung der Exportgenehmigung durch die österreichischen Behörden, davon, dass die Teile zu diesem iranischen Kraftwerk überhaupt nicht gepasst hätten, von einem Vorvertrag mit Kasachstan, von der Rubelkrise und davon, dass der Abbau der Teile jetzt doch vielleicht kommenden Jänner beginnen könne. Wenn ihn die GKT nicht im Regen stehen lasse. Der Preis des Ganzen: ein dreistelliger Million-Schilling-Betrag. Ausdrücklich sei betont: Nichts davon hat Michael Machura in jener schweigsamen Stunde gesagt. Oder sonstwann. Oder überhaupt. Alles Produkte blühender Journalistenfantasie.


50,47 Prozent Nein zu 49,53 Prozent Ja bei knapp zwei Drittel Wahlbeteiligung: Der Abend des 5. November 1978 bringt ein Ergebnis, mit dem niemand gerechnet hat. Für Josef Staribacher ist es „die größte Niederlage“, für Freda Meissner-Blau „die glücklichste Stunde im Leben“, für Josef Taus „weder ein großer Erfolg für das Land noch ein großer Erfolg für die ÖVP“. Und Maria Althann ergänzt: „Jetzt wird das ja sehr positiv herausgestrichen, dass wir in Österreich uns gegen das Kernkraftwerk entschieden haben. Aber im Grunde ist die ganze Zwentendorf-Debatte doch ein Armutszeugnis, denn warum ist es so ausgegangen? Doch nicht der Sache wegen, nur weil sich ein paar verpflichtet gefühlt haben, einem Politiker das Haxl zu stellen.“

Dass Kreiskys Versuch, sein Bundeskanzler-Schicksal mit jenem des Kraftwerks Zwentendorf zu verknüpfen, ausschlaggebend gewesen sei für das Ergebnis der Volksabstimmung, darüber ist man sich jedenfalls über alle Grenzen und Differenzen hinweg einig.

Noch im Dezember 1978 wird im Parlament das Atomsperrgesetz verabschiedet, das für Österreich die friedliche Nutzung der Kernenergie ausschließt. Mehrere Anläufe von Wirtschaft und Gewerkschaftsbund, das Kernkraftwerk Zwentendorf doch noch in Betrieb gehen zu lassen, scheitern. Mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986 ist der Kampf um Zwentendorf endgültig vorbei.

Was geblieben ist? Der Mythos vom Erwachen des grünen Gewissens in Österreich, das freilich, kaum geweckt, nur allzu rasch den aufklärerischen Impetus gegen romantische Emphase tauschte. Der Mythos vom ersten heimischen Triumph der direkten Demokratie, der jedoch nicht zuletzt Abfallprodukt und Spielobjekt der repräsentativen war. Und sonst? Ein paar zerbrochene Karrieren, viel nutzloser Beton – und ein namenloser schwarzer Fleck auf der Landkarte.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 31. Oktober 1998

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