Podersdorf: Wo fängt die Ferne an?

Vögel aus Beton. Tiefflieger über Weingärten. Ein Sonnenuntergang mit Udo Jürgens. Viel Wasser, Wein und Leuchtturm-Wehmut. Podersdorf am See: nachsaisonale Nachrichten aus dem Seewinkel.


Wo fängt die Ferne an? Jene Ferne, in die es Jahr für Jahr Urlaubermillionen zieht? Auf der anderen Seite der Erdkugel? Zumindest jenseits der Grenzen Europas? Oder vielleicht gar schon ein paar Kilometer hinter der Leitha? Immerhin: Dreieinhalb Tage kann es dauern, um von Wien beispielsweise nach Podersdorf zu gelangen. Falls man ein Koffer ist. Ein von den Österreichischen Bundesbahnen beförderter. Dreieinhalb Tage unterwegs: Kaum länger brauchten die Herren Armstrong, Aldrin und Collins, um 1969 zum Mond zu fliegen.

Womit nicht insinuiert sein soll, Podersdorf befinde sich – wenigstens kofferzustellungsmäßig – auf dem Mond. Podersdorf liegt nur 50 Kilometer südöstlich von Wien. Aber vielleicht steckt in den 87 Stunden, die das sogenannte 24-Stunden-Haus-zu-Haus-Service der ÖBB kürzlich benötigte, um mein Urlaubsgepäck vom Donaustrand an jenen des Neusiedler Sees zu transferieren, eine tiefere Wahrheit: Ist dem Wiener Podersdorf denn wirklich eine Autofahrerstunde nah – oder nicht eher 87 ÖBB-Koffertransportstunden fern?


„Podersdorf am See. Seebadeort am Ostufer des Neusiedler Sees, Seehöhe 121 Meter, einziges schilffreies Strand- und Ufergebiet, 2122 Einwohner“, meldet lapidar die Podersdorfer Gästezimmerliste. Die Festschrift zur Markterhebung aus dem Jahre 1992 steuert ein paar kräftig-erdige Historienfarben bei: „Was im ersten Jahrtausend nach der Zeitrechnung durch die Römer, später durch die Völkerwanderung und durch die Vorstöße der Magyaren bedroht war, nämlich unsere Kultur, wurde schon im zweiten Drittel des Jahrtausends durch die Osmanen (Türken) zum ständigen Angriffsziel.“ Nicht auszudenken, möchte man ergänzen, was aus „unserer“ – will sagen der Podersdorfer – Kultur alles hätte werden können, wäre sie nur nicht ständig bedrängt gewesen von den fremdländischen Barbaren aus so unzivilierten Weltgegenden wie Rom oder Konstantinopel.

Das, was all die durchziehenden Banausen an bodenständiger Aura übrigließen, fegte spätestens der Kerysche Moderniesierungssturm der Siebziger aus den Ortschaften des Seewinkels. So präsentiert sich alter Kern wie wildwuchernde Peripherie als nüchtern-anonymes Konglomerat aus Plastikfenstern, Alutoren, streng geometrischen Blumenbeeten, und selbst die Vogelfiguren, die den ortseigenen „Naturtierlehrpfad“ schmücken, sind noch aus Beton.

Die großen Völkerströme, die kommen mittlerweile allsommerlich – und wohlgelitten – aus dem Westen. Und aus dem Osten kommt längst nicht mehr, wie in der Markterhebungsfestschrift so eindringlich vorgeführt, „die Gefahr“, sondern billiges Personal für Handreichungen aller Art: sei es in Hotels und Pensionen, sei es bei der Weinlese. „Ein Einheimischer verlangt 100 Schilling die Stunde, ein Slowake oder Ungar 60, 70 Schilling“, sagt einer, der es wissen muss. Und fügt verschwörerisch hinzu: „Alles Schwarzarbeit. Das Finanzamt darf dir nicht draufkommen, sonst wird’s teuer.“


„Wurstabteilung heute geschlossen“: Schnörkellos, unverblümt, unmissverständlich kommt sie daher, die Botschaft, mit Filzstift auf Pappe gekrakelt, die den Wurstinteressenten im „Strandkaufhaus“ über die diesmalige Vergeblichkeit seines Bemühens aufklärt. Wer wollte sich nachsaisonalerweise mit langen Entschuldigungen aufhalten? „Wurstabteilung heute geschlossen“: Damit ist alle gesagt, jedes weitere Wort wäre Ornament und sohin – mit Adolf Loos gesprochen – Verbrechen.

Nein, das kaufhäusliche Podersdorf präsentiert sich als rundum sicherer Ort, sicher vor jener infamen Kriminalität der Kundenorientierung, die sich dem Besucher in vordergründiger Liebedienerei an den Hals wirft. Was sich hier in und zwischen Adeg- und Spar-Regalen ereignet, wird in manchem Gast aus dem vormaligen Osten nostalgische Gefühle wecken: an die gute alte Zeit, als die Kunden dortselbst noch froh waren, wenn es überhaupt etwas zu kaufen gab, egal, was es war und wie es aussah.

Wozu auch die penetrante Aufgeräumtheit großstädtischer Einkaufstempel, die klinische Sterilität, der zwanghafte Ordnungssinn, den sie atmen? Hier darf man sich noch fragen, wie das eine zum anderen kommt, die Haltbarmilch ins Kühlfach, das Abwaschwasserschaff zu Wurst und Käse, und über alles insgesamt ein mystischer Schleier von Grau-in-Grau.

Wenn sich dann als Draufgabe eine einheimische Quartiergeberin ausführlich an der Kassa über jene schrecklichen Gäste auslässt, die endlich – Gott sei’s gedankt – abgereist sind und solchermaßen nicht mehr die Kreise des sonstigen Haushalts durch ihre (gewiss nicht zu knapp honorierten) Begehrlichkeiten stören, dann spürt man, dass auch in manchen der hiesigen Unterkünfte diese urige Ehrlichkeit noch etwas gilt, die sich nicht mit oberflächlichen Höflichkeitsfloskeln – der Gast ist König und so weiter – aufhält.

Gewiss, Podersdorf ist längst nicht mehr frei von jenen Servilitätsterroristen, die in ihren aufdringlich schmucken Läden aufdringlich attraktive Waren feilbieten. Und das neue Strandbad ist ein besonders deprimierendes Beispiel für Servicefreundlichkeit und Funktionalität charakterlos-internationalen Formats. Aber wenigstens immer dann, wenn man wieder einmal die Gunst der Öffnungsstunde nützen und einen der örtlichen Supermärkte betreten darf, dann weiß man ganz schnell wieder, wo man ist.


Glück hat, wer Herrn Glück trifft. Stimmt schon, nicht jeder wird diese Meinung teilen; man denke an allzu heurigenselige Kraftfahrzeuglenker, Randalierer und andere Ärgerniserreger aller Art. Aber für ein nicht an Jahren, jedoch im Status der Elternschaft noch junges Urlauberpaar, nicht motorisiert, mit Kleinkind, freilich ohne Koffer und also ohne entsprechenden Vorrat an Kleinkindnahrung an einem Sonntagabend in Podersdorf gestrandet, ist es ein Glück, Herrn Glück zu treffen.

Martin Glück ist Revierinspektor des örtlichen Gendarmeriepostens. Und mit der Frische des eben den Dienst Antretenden erbietet er sich, ohne lange zu zögern, dem hilfesuchenden Trio Helfer zu sein. Nicht, dass es ihm leicht gemacht würde: Mehrere Telefonate mit Ärzten und Apothekern der Umgebung bleiben kleinkindnahrungsmäßig ergebnislos. Doch letztlich siegt – wie stets in ordentlichen Geschichten – auch hier der starke Arm des Gesetzes: Im nahen Gols forscht Martin Glück fernmündlich eine einschlägige Quelle aus. Und nicht nur das: Mit dem Streifenwagen bringt er den Vater erst in sein Quartier, anschließend Mutter und Kind nach Gols und samt dem ersehnten Fläschchenpulver wieder zurück.

Vielleicht könnte man die Sache weitererzählen, meint Herr Glück zum Abschied, dem Image der Gendarmerie zum Nutzen. Was hiemit – gewiss etwas öffentlicher, als von ihm gedacht – gern geschehen ist.


Kaum graut der Morgen, wird auch schon geschossen. Dann dauert es nicht mehr lang, bis Tiefflieger über See und Röhricht Richtung Weingärten jagen. Immer wieder. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Bis der Abend dämmert. Jeden Sommer im August beginnt erneut der Kampf um den Seewinkel. Der Feind heißt Sturnus vulgaris, besser als Star bekannt, als einzelnes Vögelchen mit seinen weißen Tropfen auf sonst schwarzem Gefieder hübsch anzusehen. In der Masse freilich für jeden Weinhauer eine Existenzbedrohung. „Die räumen dir einen Weingarten in kürzester Zeit ab“, weiß Julius Steiner, einer der angesehensten Winzer des Orts.

Freilich: Wie die Plage zu beseitigen sei, dafür gebe es kein Rezept. Das automatische Schreckschusstrommelfeuer, das tagsüber aus den Rieden dröhnt, scheint auf Dauer eher die Touristen als die Vögel zu beunruhigen. Die bunten Plastiknetze, die man neuerdings rund um die reifenden Trauben spannt, sind für die vifen Tierchen ebensowenig Hindernis, den Wein von morgen in ihre heutigen Gierschnäbel zu lesen, wie all die bunt blinkenden Folienstreifen und sonstigen Scheucheinrichtungen aller Art.

Und die tollkühnen Männer, die in ihren weißen Propellermaschinen mit allerlei eindrucksvoll aussehenden Sturz- und Tiefflügen die Schwärme zu verjagen suchen? „Die treiben die Vögel von Podersdorf über Illmitz und Apetlon nach Ungarn“, meint Josef Lentsch lakonisch, „und die Ungarn treiben sie wieder zurück. Die Stare werden auf diese Art sicher gut durchtrainiert. Aber sonst?“

Die Flieger selbst wiederum hält Lentsch, nebst seiner Winzertätigkeit auch Herr über das von Kennern – zu Recht – gerühmte Gasthaus „Zur Dankbarkeit“, schlicht für „Narren“. Früher sollen sie aus Jux und Tollerei ab und zu sogar zwischen den Türmen der Basilika im Nachbarort Frauenkirchen durchgeflogen sein. Mittlerweile ist den Piloten zwar einiges verboten, unter anderem auch, direkt in die Schwärme hineinzusteuern, geändert habe sich dadurch aber wenig: „Da fällt jedes Jahr einer runter.“


„Achtung, Achtung, die Gäste!“ Wenn der Kapitän der „Franz Liszt“ seine Passagiere an Bord begrüßt, dann schwingt immer ein Hauch von Warnung mit. Warnung vor dem See, der sich in der Tat, eben noch badewannengemütlich, binnen Kürze zum brodelnden Orkus wandeln kann? Oder Warnung vor dem Achterl eignereigenen Wein, das gratis und also höflicherweise unvermeidlich jedem Mitfahrenden dräut?

„Achtung, Achtung, die Gäste!“ Kein Schiff, keine Gäste, keinen Kapitän, keinen See gäbe es jedenfalls, wäre es nach den Plänen jenes Fürsten Esterházy gegangen, der noch 1918 das „Meer der Wiener“ trockenlegen wollte. Kein Schiff, keine Gäste, keinen Kapitän, keinen See könnte es geben, falls sich das launische Gewässer wie so oft in seiner Geschichte wieder einmal entschließt, sich buchstäblich in feuchte Luft aufzulösen. So zuletzt geschehen zwischen 1865 und 1871, als der vormalige Seeboden von Wegen durchzogen und von Pflügen durchfurcht war. Bis heute scheint niemand wirklich bis in alle Details zu wissen, wie, woher und warum wann wieviel Wasser den See speist. Und folglich auch nicht, wie lange noch,

Doch bis dahin, bis der letzte Jachthafen verlandet, das letzte Surfbrett gestrandet, die letzte Badehose verdorrt ist, kann man sie ja noch in Ruhe genießen, die „Fahrt in den Sonnenuntergang“ auf der „Franz Liszt“, kann sich zurücklehnen und sich daran freuen, dass sich an diesem wundervoll ruhigen Spätsommerabend Helios gerade in jenem Augenblick hinter dem Leithagebirge verbirgt, in dem sich Udo Jürgens via Schiffslautsprecher auf die Suche nach dem „Platz an der Sonne“ singt.


Wurst vom Mangalizaschwein hie, Braten vom Mangalizaschwein da. Mangalizaschwein? Was hat man sich darunter vorzustellen? Jupp weiß Rat. Jupp, so nennt sich der Zsupán von Podersdorf, hiesiger Nachkomme jenes Straussschen Operetten-Schweinezüchters, dem Borstenvieh und Schweinespeck noch jenseits aller Cholesterinphobie der ideale Lebenszweck sein durfte. Seit 1992 hütet Jupp, mit bürgerlichem Namen Josef Waba, eine beständig wachsende Herde von Mangalizaschweinen, einer alten pusztatauglichen Haustierrasse, die vor dem Aussterben stand: „Mit vier Stück hab ich angefangen, heut sind es alles in allem 120.“

Ausgegangen sei die Initiative vom Nationalpark Neusiedler See: Der habe sich für eine Wiederansiedlung der zottligen Tiere eingesetzt, die bis in die Fünfzigerjahre die hiesige Kulturlandschaft beweideten. „Erst wollte der Nationalpark mit Bauern zusammenarbeiten. Aber das hat sich zerschlagen. Und so hab ich die Sache in die Hand genommen.“

Mittlerweile kann sich Waba größter Mangaliza-Züchter Österreichs nennen. Das Know-how dazu hat sich der gelernte Fleischer laut eigener Aussage selbst beigebracht. Wobei sich seine eigentliche Profession bei der Vermarktung als durchaus nützlich erweist: In seinem Podersdorfer Lokal, „Jupp’s Bierstüberl“, bietet er Mangalizawaren aller Art, vom Selchkarree bis zur Hartwurst, zum Kauf an, selbstverständlich auch den klassischen Mangalizaspeck, alles aus eigener Erzeugung. Und außerdem versorgt er einige Restaurants der näheren Umgebung mit Fleisch von seinen Tieren.

Bis diese freilich, veredelt zu Schnitzel oder Braten, auf Podersdorfer Wirtshaustischen enden, fristen sie ein – so scheint’s zumindest – freudvolles Schweineleben: auf großzügiger Weide unweit des Neusiedler Sees, bestaunt von dichten Radtouristenscharen. Und dass die nachbarliche Flur Hölle heißt, wird gewiss kein Schwein als böses Vorzeichen werten.


Wo fängt die Ferne an? Jene Ferne, in die es Jahr für Jahr Urlaubermillionen zieht? Auf der anderen Seite der Erdkugel? Zumindest jenseits der Grenzen Europas? Oder womöglich schon ein paar Kilometer hinter der Leitha?

Vielleicht beim Leuchtturm von Podersdorf. Nacht für Nacht streicht sein Licht über die Wellen. Nacht für Nacht, wenn die Hügelkette des Leithagebirges im Dunkel verschwunden ist, kann man sich hier den See endlos denken, endlos wie das Meer, bar jeder Begrenzung, kann in die Lichter der Orte am jenseitigen Ufer Kreuzfahrtschiffe träumen und in das regelmäßige Klatschen des Wassers die Gezeiten. Dann ist Podersdorf ganz sicher nicht mehr eine Stunde nah. Dann ist es fast so fern wie der Mond.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 25. September 1999

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