Rosa, ein Abschied oder: Der Strudel des Lebens

Für die allermeisten hat das 21. Jahrhundert längst begonnen. Für mich ist das 20. eben erst zu Ende gegangen. Mein 20. Jahrhundert hatte einen Namen: Rosa. Vergangenen Mittwoch habe ich es zu Grabe getragen.


Ein ganzes Menschenleben in einem Apfelstrudel. Die massigen Hände, die scheinbar schwerelos rund um den Tisch fliegen, bis der Teig tatsächlich so zart gezogen ist, dass man, wie von alters her gefordert, die Zeitung drunter lesen könnte. Ein paar behände Griffe, schon ist die Fülle verteilt, der Strudel aufgerollt und wird, weil weitaus zu lang für jedes gutbürgerliche Backrohr, kräftig zupackend zu einem wuchtigen U gebogen. Und der Strudel lässt alles über sich ergehen, anerkennt die Macht, die über ihm waltet, reißt nicht auf, sosehr sich auch seine Hülle über der Fülle bläht – und wenn doch, genügen ein paar Zupfer da, ein paar Zupfer dort, und alles ist wieder gut.

Das ganze Wissen, die ganze Erfahrung von 70, 80, später gar 90 Lebensjahren bündelten sich in diesen Strudel-Exhibitionen, denen ich erst nur staunend, später – nach ersten strudelmäßigen Selbstversuchen – umso tiefer bewundernd folgte. Und es wäre nicht Rosa, meine Großmutter, gewesen, hätte nicht auch hier, auf dem scheinbar festgefügten Boden heimischer Küchenbräuche, ihr nimmermüder Gestaltungswille Platz gegriffen, der selbst da unbeirrbar nach Verbesserung strebte, wo nichts zu verbessern war: Statt der laut Mehlspeis-Kanon unersetzlichen Semmelbrösel verwendete sie stets geriebene Walnüsse als Mittler zwischen Teig und feuchter Fülle, was das Äußere ihrer Apfelstrudel nie so knusprig-duftig werden ließ, wie es sonst geworden wäre.

Doch zum einen waren Walnüsse dank eines Walnußbaums in ihrem Garten in beträchtlichen Mengen vorrätig, zum anderen galten Nüsse überhaupt auf Rosas Werteskala als viel kostbarer denn Brösel, wovon hinwiederum der Strudel – Backtradition hin oder her – nur profitieren konnte. Und wir mit ihm, ob wir wollten oder nicht.

Rosas Apfelstrudel als Sinnbild einer zuletzt 94 Jahre währenden Existenz: Dieselbe Ordnung, die sie jederzeit gegen jedermann und -frau bedingungslos verteidigte, setzte sie für sich selbst, wenn es ihr angezeigt schien, ohne zu zögern, außer Kraft. Und hätte sie es wirklich darauf angelegt, denke ich mir jetzt, Tage nach ihrem Tod, manchmal im Stillen, dann hätte sie auch noch ihr eigenes Sterben überlebt.


„Schetzkojedno“, „Bramburi“, „auf lepschi gehen“: Das Österreich, in das Rosa im Juli 1907 geboren wurde, war noch eines, das seine Fremd- und Lehnwörter, jedenfalls die des Dialekts, zu einem ansehnlichen Teil aus dem Slawischen bezog. Was Wunder, stammte doch in Rosas – und nicht nur in ihrem – Falle zumindest ein Elternteil, hier der Vater, aus Mähren, die Mutter wiederum aus dem mährisch-niederösterreichischen Grenzgebiet. Im Übrigen ist wohl davon auszugehen, dass man in der kleinen Marchfeldgemeinde Engelhartstetten, in der Rosa zur Welt kam, in jenen Jahren andere Sorgen hatte, als sich um das Wohl und Wehe der deutschen Sprache und deren Gefährdung ob solcher fremdländischer Einflüsse zu grämen.

Also sagte Rosa „schetzkojedno“ und meinte „egal“, sie sprach von „Bramburi“ und meinte „Erdäpfel“, und sie fragte mich, ob ich „auf lepschi“ gehe, wenn ich mich unübersehbar anschickte, mich in Vergnügungen zu stürzen. Rosas Sprache war Nachhall einer anderen, fernen Welt, die Österreich noch als viel mehr ost- denn westwärts gewandt kannte, einer Welt, in der heimischer Umgangston fallweise nach Brünn oder Pressburg, Budapest oder Agram klang, aber nie nach Manhattan – oder nach einem Synchronstudio in Berlin.


Als Rosa, halbwüchsig noch, „in Dienst“ ging, wie man das damals nannte, da hatte sie gerade die Mutter durch frühen Tod verloren und also gar keine andere Wahl, als ihren Unterhalt selbst zu verdienen, und sei es auch nur als Stubenmädel. Als Rosa mitten im Zweiten Weltkrieg das Geschäft ihres Mannes übernahm, da hatte sie abermals keine Wahl, denn der Mann war gestorben, und die beiden Kinder wollten ernährt sein. Dass dieses Geschäft ausgerechnet eine Kohlenhandlung war, mag ihr diesen Weg nicht eben erleichtert haben, doch wie viele andere Frauen in jenen Tagen bewährte auch sie sich in einem Metier, das auszufüllen einer Frau bis dahin von niemandem zugetraut worden wäre – von Männern sowieso nicht, aber auch nicht von anderen Frauen.

Gut möglich, dass Rosa selbst nicht so recht daran glauben konnte, doch was half’s? Sie schleppte Kohlensäcke, lieferte aus, kümmerte sich um die Pferde, die ihren Wagen zogen und die sie – ob Stute, ob Hengst – allesamt Liesel rief. Männer, die fanden hier nur mehr als Hilfskräfte Platz. Und Rosa blieb auch dann unumschränkte Herrin in ihrem eigenen Haus, als sich nach Kriegsende die meisten anderen Frauen, denen es ähnlich wie ihr ergangen war, wieder zu Heim und Herd zurückzogen.

Stubenmädel, Hausfrau und Mutter, Kleinunternehmerin: eine Emanzipation mangels Alternative. Was freilich nicht so weit ging, dass sich diese Realität, die Rosa letztlich in dem ihr eigenen Machtbewusstsein durchaus lustvoll erlebt haben mochte, auch in ihrem Wertekatalog niedergeschlagen hätte. Hier blieb bis zuletzt ein Mann ein Mann, die Frau halt eine Frau, blieben Grenzen unverrückbar, die sie selbst in ihrer eigenen Wirklichkeit längst hinter sich gelassen hatte.

In vielen solchen Details war mir Rosa mit ihren vergangenheitstrunkenen Erzählungen das beste aller denkbaren Geschichtslehrbücher, das ich nur zu fragen brauchte, um auch Antworten zu bekommen, die in keinem anderen Lehrbuch standen. Und sie war – wen wundert’s? – ein zutiefst österreichisches Geschichtslehrbuch des vergangenen Jahrhunderts, eines, in dem etwa Glanz und Gloria der Monarchie einen viel größeren Raum einnahmen, als es den elf Jahren eigentlich entsprochen hätte, in denen Rosa einen matten Abglanz davon noch erhaschen konnte. Ein Geschichtslehrbuch, in dem andere sogenannt große Zeiten wiederum nur seltsam kursorisch und erst auf Nachfrage abgehandelt wurden. Eines freilich auch, in dem viel von Not und Elend die Rede war, aber stets zugleich von der Überzeugung, wie und dass beides zu meistern sei. Ein Manifest der Hoffnung, einer Hoffnung, die sie bis in die Tage objektiver Hoffnungslosigkeit nicht zu verlassen schien.

Dass Rosa dabei manches Grau der Wirklichkeit in prächtige Farben tauchte, wer wollte es ihr verdenken? Wer von uns würde sich nicht lieber an die blonden Locken des Habsburgersprosses Otto erinnern als daran, zur selben Zeit, als jener samt kaiserlichen Eltern des Öfteren durch den eigenen Wohnort kutschiert wurde, fast verhungert zu sein? Anfang der Dreißiger den Ungarn Gabor zu heiraten, einen Ausländer, k. u. k. hin oder her, wird für das Stubenmädel Rosa selbst in Zeiten, in denen die Monarchie noch sehr viel näher war als heute, auch nicht so einfach und selbstverständlich gewesen sein, wie sie es späterhin gerne darstellte. Ganz zu schweigen von der vorangehenden Entscheidung, nicht ihrer Herrschaft nach England zu folgen, sondern im von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Österreich auszuharren.

Rosa blieb, und dass ihr das nicht leicht fiel, ließ sich unschwer daran ermessen, wie oft die Erzählung von jenen entscheidenden Tagen im Repertoire ihrer Geschichten wiederkehrte – und dass sie höchstbetagt noch einmal darauf insistierte, ihre gleichermaßen höchstbetagte Herrin von früher im fernen London zu kontaktieren.


Zwei Weltkriege, zwei Diktaturen, staatlich organisierte Massenvertreibung und nicht weniger staatlich organisierter Massenmord: Auch das war Rosas Jahrhundert. Und niemanden darf es angesichts dessen wundern, dass sie zeit meines Miterlebens Politik ein schmutziges Geschäft nannte. Immerhin: Sie ließ sich’s nie nehmen, zur Wahl zu gehen, schließlich hat man seine Staatsbürgerpflicht, doch tat sie das zugleich in der ihr gegenüber nie wegzudiskutierenden Überzeugung, es sei im Grunde irrelevant, wer, wie sie sagte, „am Ruder“ sei.

Gleichermaßen skeptisch stand sie, die Wirtschaftstreibende, dem Treiben der Wirtschaft gegenüber. So hielt sie alles, was mit Banken zu tun hatte, grundsätzlich für moralisch zweifelhaft, wenn nicht kriminell und ließ als einzige taugliche Möglichkeit der Kapitalveranlagung Grund und Boden gelten. Und wer wollte es ihr verdenken, hatte sie doch den Schwarzen Freitag, galoppierende Inflation, Bankenkrachs sonder Zahl und – ohne jemals das Land auf länger zu verlassen – immerhin drei Währungswechsel hinter sich gebracht, allesamt nicht geeignet, den Glauben an die Segnungen des Kapitalismus zu fördern. Hätte man ihr anempfohlen, ihr mühsam erarbeitetes Geld in Aktien anzulegen, sie hätte wohl zuerst gemeint, sich verhört zu haben, und dann vermutet, ihr Gegenüber müsse ohne Zweifel – auf gut wienerisch – „meschugge“ sein. Die hiesige Zurückhaltung gegenüber allem, was mit Börse zu tun hat, wird heute oft belächelt. Aber was sonst, wenn nicht das, hätte Rosas Lehre aus dieser ihrer Geschichte sein sollen?


Ein Geburts- und Taufschein, datiert mit 1920, eine Sterbeurkunde, 22 Jahre jünger, ein Auszug aus dem Sterbebuch schließlich, dieser Tage ausgestellt. Ein Jahrhundert in drei Dokumenten. Als Pfarrer Peter Nosko, dem Engelhartstetter „Geburts- und Taufbuche“ folgend, streng amtlich die 1907 stattgehabte Geburt und Taufe Rosas bezeugt, da kalligrafiert er sein Kurrent auf Papier, als gelte es, ein Kunstwerk zu schaffen – und auf den Stempelmarken prangt groß der Aufdruck „Deutschösterreich“. Jenem Standesbeamten wiederum, der 1942 den Tod von Rosas Mann beurkundet, steht schon eine Schreibmaschine zu Diensten, die Stempelmarken werden in Reichspfennig verrechnet, und auch ein Hakenkreuz darf nicht fehlen. Rosas eigener Tod schließlich wird – gerade noch – in Schilling „vergebührt“ und kommt blitzsauber und aseptisch auf Papier, so sauber und aseptisch, so nüchtern und distanziert, wie das Sterben heutzutage auch sonst allenthalben vor sich geht.

Drei Dokumente, ein Jahrhundert. Es könnten auch Jahrhunderte sein.


Die letzten Male, da ich Rosa sah, war keine Rede mehr von der Vergangenheit, keine Rede mehr von Glück und Unglück zurückliegender Tage, war überhaupt keine Rede mehr von irgendetwas, war nur mehr stummes Leiden. Mein 20. Jahrhundert hatte aufgehört, sich mir mitzuteilen, mein Geschichtsbuch war geschlossen für immer. Die bis hoch in ihre Achtziger so mächtige und machtvolle Frau lag, ohnmächtig ganz und gar, in ihrem Bett, gekrümmt, wie geschlagen, und wartete auf den Tod, der sich ihr beharrlich, über viele Monate, verweigerte.

So wie sie sich früher dem Sterben mit nimmermüder Energie entgegengestemmt hatte, so schien sie jetzt, da sie sich vielleicht nichts sehnlicher wünschte als den Tod, gar nicht mehr fähig, die letzte Ruhe zu erlangen. „Warum kann es nicht endlich vorbei sein?“ war eine der letzten Fragen, die sie mir stellte, und sie wie ich wussten, dass es darauf keine Antwort gab.

Danach nur mehr warten. Warten auf eine Ende, das nur mehr Erlösung sein konnte und das doch, als es kam, unerwartet und schmerzlich war. In einer warmen Juli-Nacht des Jahres 2001 ging mein 20. Jahrhundert zu Ende. Vergangenen Mittwoch habe ich es zu Grabe getragen, Rosa mit Namen, Kohlenhändlerin.


Was bleibt von 94 Jahren Leben? Eine Inschrift am Grab. Eine Handvoll Papiere. Ein paar vergilbte Photographien. Und vor allem Erinnerung. Erinnerung an lange Erinnerungserzählungen, Erinnerung auch an lange Dispute über Gott, die Welt und was uns sonst noch wichtig schien. Erinnerung auch an Rosas phänomenale Apfelstrudel-Exhibitionen.

Dass ich es dereinst, irgendwann in einer fernen Zukunft, zu einer Strudelteig-Perfektion ähnlich jener Rosas bringen werde, kann ich nur hoffen. Aber vielleicht sollte ich schon jetzt meine Fülle auf geriebene Walnüsse, nicht auf Brösel betten. Sicher, es macht den Strudel nicht knuspriger. Aber es gibt ihm einen unverwechselbaren Geschmack.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 4. August 2001

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