Wie bastle ich mir einen Bestseller? Eine Selbsterfahrung

Mehr als 80.000 Autoren tun es, sagt Sol Stein, und 98 Prozent davon „mit Erfolg“: sie wenden seine Software „WritePro Fiction“ an. Jetzt liegt das Programm auch in einer deutschen Version vor. Motto: Wie bastle ich mir einen Bestseller? Eine Selbsterfahrung.


Nein, ich denke nicht nur an Geld . . . aber so ein sechsstelliger Vorschuss . . . US-Dollar zumal . . . und das für sechs ganze plus eine halbe Seite Entwurf . . . „Software gekauft. 6 Seiten Entwurf geschrieben. Erster Verleger, der ihn sah, gab mir sechsstelligen Vorschuss.“ Respekt! Ein gewisser Jerry B. Jenkins behauptet, solches sei ihm widerfahren.

Und nicht nur das: Jerry B. Jenkins ist mittlerweile „Autor von 150 Büchern, darunter der bestsellerträchtigen ,Left-behind‘-Serie“, des Weiteren Eigentümer einer Filmgesellschaft und der „Christian Writers Guild“, erfährt man auf seiner Homepage. Und die Software, der er nach eigener Aussage sein Imperium verdankt? Die stammt von Sol Stein, hört auf den Namen „WritePro Fiction“ – und ist seit Kurzem auch in einer deutschen Version lieferbar. Mit 35 Euro wohlfeil fürwahr, bedenkt man den sechsstelligen Dollarsegen, der alsbald über jedem Nutzer niedergehen müsste. Schließlich: „Über 80.000 Autoren verwenden mein Programm“, weiß Sol Stein, „98 Prozent mit Erfolg.“ Da werden die Vorschusszahler in den deutschsprachigen Verlagen bald ins Schwitzen kommen.

„,WritePro Fiction‘ ist ein praxisorientiertes und interaktives Lernprogramm, mit dem Sie Ihre schriftstellerischen Fähigkeiten schnell verbessern können“, verspricht Bildschirmseite eins der ersten Lektion. Seite zwei kündigt an: „Im Rahmen dieses Programms bekommen Sie nicht nur wertvolle Hinweise und Tipps, sondern setzen das Gelernte auch direkt praktisch um.“ Auf Seite drei folgt das erste Postulat: „Regeln sind das A und O beim Schreiben.“ Was auf Seite vier unvermeidlich die ersten Regeln für die gedeihliche Abfassung einer Story nach sich zieht: „Regel 1: Irgendjemand muss etwas unbedingt wollen. Regel 2: Diese Person sollte Ihre Hauptfigur sein.“ So weit, so klar. Und so unbestreitbar, schließlich beruft sich Sol Stein mit seinem Reglement „auf einige Dutzend Romane der letzten zwei Jahrhunderte“, nicht zu vergessen seine „jahrzehntelange Erfahrung als Schriftsteller und Lehrer“. Na dann.

Schon auf Seite fünf wird es dann richtig ernst: Die kreative Schreibarbeit für den Bestsellerautorenanwärter hebt an. Und damit uns die nicht zu schwer fällt, gibt uns Sol Stein eine kleine Starthilfe auf den Weg: „Nehmen wir an, dass unsere Hauptfigur eine ungefähr 35-jährige Frau namens Andrea Reutter ist.“ Was also könnte eine Frau Mitte 30, siehe Regel 1, „unbedingt wollen“? „Andrea Reutter will ihren Mann ermorden“, tippe ich ohne langes Zaudern in die vorgesehene Eingabebox. Das kommt schließlich in den besten Familien vor, fallweise gerade dort bevorzugt.

Doch nicht zu hastig: Hält mein Vorschlag auch Regel 3 auf der nächsten Bildschirmseite stand? „Was die Hauptfigur will, sollte wichtig sein.“ Und gleich darunter: noch einmal die Eingabebox mit meinem Text – und Sol Steins insistierende Frage: „Ist Andrea Reutters Wunsch wichtig? Würden das Leser auch so sehen?“ Samt Aufforderung zur Überarbeitung. Ich gehe in mich. Nun, an Wichtigkeit scheint’s meinem Vorschlag, Gattenmord, zumindest auf den ersten Blick nicht zu mangeln. Aber was ist er schon wert im Vergleich dazu, was Stein selber wenig später proponiert: „Eine verheiratete Frau mittleren Alters möchte unbedingt aus ihrer Stadtwohnung in ein Haus am Stadtrand ziehen, da sie gerne einen Garten hätte, wie zu ihrer Kindheit.“ Welch ein Plot! Startauflage 200.000 Exemplare. Mindestens. Dennoch: Ich bleibe meiner Männermörderin treu. Schließlich, wie heißt’s bei Sol Stein? „Sie müssen nicht um jeden Preis etwas ändern. Es passiert nämlich schnell, dass man beim Überarbeiten etwas verschlimmbessert.“ Eben.

Und, was nun? Besser gesagt: „Wie bringen Sie Dramatik in Ihre Geschichte?“ Gute Frage. Sol Stein sei Lob und Dank, die Antwort ist nicht fern: „Regel 8: Jeder Held braucht einen Gegenspieler.“ Also: Wer könnte Andrea Reutter an der Umsetzung ihres Wunsches hindern? Das scheint in gegenständlichem Fall auf der Hand zu liegen: „Ihr Mann will sich nicht ermorden lassen“, tippe ich unverdrossen in die nächste Eingabebox. Was hat uns Sol Stein zu Beginn prophezeit? „Wenn Sie als erstes die Figuren entwerfen, entwickelt sich die Handlung ganz natürlich aus deren Wünschen.“ Quod erat demonstrandum.

Ungefähr zu Halbzeit der ersten Lektion halte ich somit bei folgendem belletristischem Zwischenstand: „Andrea Reutter will ihren Mann ermorden. Ihr Mann will sich nicht ermorden lassen.“ Logisch stringent, ja geradezu luzid gedacht, jedoch, wie soll ich sagen, noch ein wenig karg. Noch. Denn schon ist abermals Sol Stein zur Stelle: „Hat Andrea Reutter auch Fehler? Es bedarf nur weniger Worte, um eine Charakterschwäche anzudeuten.“

Ein Beispiel, Mister Stein? „Sie war die beste Sekretärin der Firma, und doch stand sie immer um eine Minute nach fünf am Aufzug.“ Tja, was so eine rechte Mittdreißigerin wie Andrea Reutter ist, kann wohl nichts anderes als Sekretärin sein. Aber das ist vielleicht schon als Vorwegnahme der Warnung vor „stereotypen Figuren“ gedacht, die auf Bildschirmseite 30 folgt.

Wir lernen: „Regel 13: Runde Charaktere erhalten Sie, indem Sie Ihre Figuren durch konkrete Details beschreiben.“ Nichts leichter als das! Die nächste Eingabebox her, und schon ist meine Andrea ausstaffiert: „Sie hat funkelnde Augen, aus ihrer Stirn ragen zwei kleine, in steilem Schwung nach hinten gebogene Hörner, und ihr Hinken rührt von einem Huf, der ihr linkes Bein beschließt.“ Sol Stein fragt: „Haben Sie ihr Äußeres so beschrieben, dass Sie Andrea unter zehn Frauen sofort wiedererkennen würden?“ Ich denke, ja. Und wende meine Charakterisierungsaufmerksamkeit ihrem Kontrahenten zu. Aber aufgepasst: Plötzlich ist in Steins Tutoriumsterminologie aus dem vormalig neutralen „Gegenspieler“ ein „Bösewicht“ geworden. „Wichtig“, warnt uns der Meister aller Differenzierungen, „zeichnen Sie keine Karikatur. Ist Ihr Bösewicht nicht glaubwürdig, wird niemand davon überzeugt sein, dass Andrea Reutter wirklich in Gefahr ist.“ Woraus sich zwingend erkennen lässt: In Steins Vorstellungswelt kann Andrea nur „gut“, ihr Gegenspieler nur „böse“ sein und nicht umgekehrt. Wäre vielleicht auch ein bisserl zu viel der Kreativität, so für den Anfang jedenfalls.

Solchermaßen bin ich ab Bildschirmseite 35 mit einer „guten“ Männermörderin und einem „bösen“ Opfer geschlagen, was meine moralischen Maßstäbe – zugegeben – einigermaßen durcheinanderwirbelt. Andererseits: Könnte nicht Andrea Reutter ihre, je nun, tatsächlich guten Gründe haben, sich ihres Gatten entledigen zu wollen? Und hurtig wird eingabegeboxt: „Das Auffälligste an Herrn Reutter“, schreibe ich, „ist seine ganz und gar vollkommene Unauffälligkeit. Ein Niemand, der sich keinem, der ihn jemals traf, irgendwie eingeprägt hätte, es sei denn durch die bedrückende Empfindung, dem Nichts begegnet zu sein.“ Jetzt einmal ganz unter uns: Wer wollte sich eine solche Unperson nicht raschestmöglich vom Halse und von allen anderen Körperteilen schaffen?

Summa summarum: Wir stehen am Ende der ersten Lektion – und auch die Story steht. Und Sol Stein klopft mir bildschirmmäßig auf die Schulter: „Da die Handlung aus den Charakteren hervorgeht, werden Sie bemerken, dass Sie mit der ersten Lektion bereits einen wichtigen Grundstein gelegt haben.“ Kein Zweifel.

In Lektion zwei verpasse ich Frau Reutter einen achtjährigen Sohn, Julian, und ich schicke sie – brav meinem elektronischen Meister gehorchend – auf eine Party bei den Dettmars, woselbst sie eine Überraschung erlebt. Denn: „Regel 18: Überraschungen sorgen für Spannung.“ Lektion drei lehrt mich „den perfekten Anfang einer Geschichte“, Lektion vier, „wie man durch Dialoge Spannung erzeugt“, und nachdem ich in den Lektionen fünf und sechs erfahren habe, was es heißt, mein eigener Lektor zu sein, stoße ich in Lektion sieben endlich zur überraschenden Erkenntnis vor, was die literarische Welt im Innersten zusammenhält: „Regel 102: Erwiderte und verlorene Liebe, das ist der Funke, der die Leidenschaften im Leser entzündet. Regel 103: Die Wirkung auf den Leser ist doppelt so stark, wenn Sie Beginn und Ende einer Liebe in einer Geschichte beschreiben.“ Wer hätte das gedacht?

Spätestens jetzt vermutlich werden auch Sie die Berufung zum Autor in sich fühlen; ehe Sie sich jedoch an den Zweitausendeins-Versand wenden, um Sol Steins Lehrwerk zu erwerben, ein paar technische Details: „WritePro Fiction“ läuft auf Windows-PC ab Windows 95, auf Apple ab OS 8 und, wenn’s drauf ankommt, auch noch unter Linux.

Was meine ganz private Andrea Reutter und ihre mörderischen Pläne anlangt, sei an dieser Stelle nicht mehr als bisher verraten. Das sollte fürs Erste genügen. Entsprechende Verlagsvorschussangebote bitte ich direkt an mich zu richten – unter der Wiener Telefonnummer 514-14/427. Ein Hinweis: unter sechsstellig zwecklos.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 5. Oktober 2002

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