Julian Rachlin: „Auch Panik. Große Panik.“

„Ich brauche ein blödes Blatt Papier, auf dem Noten drauf sind, sonst bin ich wertlos.“ Julian Rachlin, aus Litauen stammender Violinvirtuose mit Wohnsitz Wien, über Angst und Einsamkeit des Solistenlebens, über Wunderkinder, Bach, Vangelis, Billy Joel und das Idol seiner Jugend – Hans Krankl.


Mit zweieinhalb habe er die erste Geige bekommen. Und von diesem ersten Moment seiner Karriere an sei er dagewesen, der „schöne Ton“, von diesem ersten Moment an „kein Kratzer“: „Das kann man nicht lernen.“ Aber: „Dann braucht man die richtigen Leute um sich herum, die richtigen Lehrer und noch zirka 1000 Faktoren, die alle zusammenspielen müssen.“ Falls man das erreichen will, was Julian Rachlin erreicht hat: 1988, im Alter von 14 Jahren, triumphiert der aus Litauen gebürtige und in Wien bei Boris Kuschnir ausgebildete Sohn eines Musikerehepaars beim Eurovisionswettbewerb. Der Grundstein einer Solistenlaufbahn ist gelegt, die das Wiener Konzerthaus in dieser Saison mit einer dreiteiligen Rachlin-Personale würdigt. Teil eins: ein gemeinsamer Auftritt mit der Gruppe „Triology“ am 16. Dezember, bei dem Rachlin etwa in Tristan Schulzes „Resurrection of the Viola Player“ auch als Bratschist zu hören sein wird.


Julian Rachlin, Sie sind in Litauen geboren, in Wien aufgewachsen, seit 14 Jahren auf einer scheinbar endlosen Reise durch alle Konzertsäle der Welt, haben Ihr eigenes Festival in Dubrovnik, Konzertagenten in Genf und London, New York und Kopenhagen, Wien und Barcelona. Wo sind Sie zu Hause?

Ich bin in Wien zu Hause, ganz eindeutig. Obwohl man ja immer sagen kann, dass man eher im Flugzeug zu Hause ist oder im Hotelzimmer. Aber jedes Mal, wenn ich in Wien-Schwechat lande, habe ich das Gefühl, wieder richtigen Boden unter den Füßen zu haben, den Boden, der mir die Wärme gibt und auch die Energie, die nächsten Reisen anzutreten.

Sie sind 1978 mit Ihrer Familie aus Litauen nach Österreich emigriert, damals gehörte Litauen zu einer UdSSR, die noch von Breschnew regiert wurde, weit und breit war keine Rede von Glasnost und Perestroika. Wie ist es Ihrer Familie gelungen, aus dieser UdSSR herauszukommen?

Ein stark limitierte Anzahl von Juden durfte aus der Sowjetunion offiziell ausreisen: Man hat die Papiere eingereicht, das Bürokratische erledigt, und dann musste man warten. Bis zu zehn Jahre, wie es Freunden von uns passiert ist. Wir hatten keine Beziehungen, keine Verbindungen, die uns die Sache erleichtert hätten, aber wir haben das unfassbare Glück gehabt, nur zwei Jahre warten zu müssen. Zwei Jahre – und dann ging der Zug los, und wir sind mit 300 Dollar in Wien angekommen, am Südbahnhof. Es war unglaublich.

Für die meisten jüdischen Emigranten aus der Sowjetunion war Wien nur Durchgangsstation. Wieso nicht für Ihre Eltern?

Ihr Traum war, in Wien zu bleiben. Meine Mutter stammt aus Litauen, der Vater aus dem tiefsten Russland, Jekaterinburg, ihre Musikausbildung haben sie aber zehn Jahre lang in Sankt Petersburg bekommen, am dortigen Konservatorium, das damals für die Musikausbildung eine der Weltmetropolen war. Und für Musiker, die in Sankt Petersburg aufgewachsen sind, war Wien das Größte. Die Tatsache, dass wir durch Wien reisen und uns eine Zeitlang hier aufhalten würden, bis wieder die Papiere fertig wären, um in die eigentlichen Emigrationsländer weiterreisen zu können, diese Chance wollten meine Eltern nützen, um hier Arbeit zu kriegen. Wir hatten einen Fremdenpass – der eigene Pass wurde einem ja gleich abgenommen, wir waren ja Landesverräter – und haben gehofft, dass wir irgendwie hier bleiben dürfen. Und das ist dann eingetreten.

Wie fühlbar war es für Sie in Ihrer Kindheit, dass Sie nicht aus Österreich stammen?

Ich bin als Dreijähriger hier angekommen, da passt man sich an alle Situationen an. Für die Eltern war das viel schwieriger. Ich kann mich komischerweise an vieles erinnern. Wahrscheinlich weil alles so neu war. Ich bin sofort in den Kindergarten gegangen. Da hab‘ ich überhaupt nichts verstanden am Anfang, kein Wort, die anderen haben wiederum mich nicht verstanden; aber unter kleinen Kindern – nach ein, zwei Wochen fängst du an, mit den anderen zu reden. Und so habe ich mich schnell eingelebt.

Gibt es heute noch etwas, was Sie an sich als „russisch“ definieren würden?

Vielleicht ein bisschen die Seele. Das Slawische, das ist schon geblieben. Ich bin auch jedes Jahr in Sankt Petersburg und in Moskau zu Gast und habe viele Freunde dort, fühle mich zwar nicht zu Hause dort, das auf keinen Fall, aber nahe, durch die Sprache und durch das Lebensgefühl. Es gibt schon eine Identifikation, auch wenn ich nach Litauen fahre, zurück zu den Wurzeln. Oder wenn ich nach Israel fahre. Und dadurch, dass ich durch meinen Beruf immer hin und her geschleudert werde und mich auch gerne schleudern lasse, kommt es vielleicht zustande, dass ich mich nicht nur an einem Ort wohlfühle, sondern an vielen Orten. Aber ohne Wien wäre all das nicht möglich.

Sie sind mit 14, in einem Alter, in dem für die meisten anderen Schularbeiten die Hauptsorge sind, von Lorin Maazel zu einer gemeinsamen Tournee eingeladen worden, sind wenig später als jüngster Musiker der Geschichte gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern bei einem Philharmonischen Abonnementkonzert aufgetreten. Trotzdem lehnten Sie den Begriff Wunderkind für sich immer ab. Was stört Sie daran: das Wunder oder das Kind?

Wunder stört mich. Kind stört mich überhaupt nicht. Ich bin Kind und möchte so lange Kind bleiben wie möglich. Heute stört mich die Bezeichnung Wunderkind auch nicht mehr, weil ich einfach aus dem Alter raus bin, damit werde ich nicht mehr konfrontiert, aber damals hat es mich gestört, weil ich mich einfach nicht als Wunderkind gesehen hab‘. Mozart ist ein Wunderkind gewesen oder Yehudi Menuhin, der nicht mit 14, sondern mit sechs, sieben Jahren unfassbare Dinge vollbracht hat. Im Nachhinein betrachtet: Ich weiß gar nicht, wie ich das damals gemacht hab‘. Das passiert ja alles unbewusst. Und wenn ich heute diese unglaublichen Talente seh‘, die elf, zwölf Jahre alt sind und Erstaunliches leisten, dann frage ich mich auch: Wie ist das möglich? Woher kommt das?

Wie hat man sich Ihr damaliges Tagespensum vorzustellen?

Ganz normal. Ich habe das Glück, dass die Eltern Profimusiker sind, die Mama Pianistin, der Vater Cellist. So konnte meine Mutter die Stücke, die ich lernen musste, sofort am Klavier mit mir spielen, und der Vater konnte mich als Streicher unterstützen. Und die haben in einer Art mit mir gearbeitet, abseits von meinen Stunden, dass das unglaublich viel Spaß gemacht hat. Es war nie ein Druck da. Meine Eltern wollten ja überhaupt nicht, dass ich Musiker werde.

So erfolglos kann Erziehung sein.

Das sagen sie selbst auch, genau so: Sie haben versagt. Das Kind macht immer das Gegenteil dessen, was die Eltern wollen. So ist es ihnen nicht gelungen, aus mir keinen Musiker zu machen. Mein Tagesablauf war eigentlich ganz normal. Ich war oft auf dem Fußballplatz, beim Training von Rapid, da war der Krankl, das war mein Idol. Ich war jede zweite Woche im Hanappi-Stadion. Und als Krankl dann am Ende seiner Karriere Spielertrainer beim Wiener Sportclub war, da haben wir in Hernals gewohnt, zwei Straßenbahnstationen vom Sportclub-Platz, und daher war ich regelmäßig beim Training vom Sportclub.

Der einzige Unterschied, der zu einem sozusagen normalen Leben bestand, der lag darin, dass ich drei, vier Stunden pro Tag geübt hab‘, eine Zeit, in der die anderen vielleicht etwas anderes gemacht haben. Andererseits habe ich von Anfang an die Schule ein bisserl weniger ernst genommen, ich war immer ein sehr durchschnittlicher Schüler, habe die Schule auch nicht beendet, mein letztes Pflichtjahr ist nicht benotet.

Wie hoch ist der Preis für Ihre Karriere?

Der Preis, den ich dafür bezahle, besteht darin, dass eine Beziehung derzeit fast unmöglich scheint.

Außer die zu Ihrer Geige.

Ja, richtig. Die Tatsache, dass die Geige, dass die Musik wahrscheinlich immer das Wichtigste sein wird, die ist sehr beängstigend. Das Alleinsein, die langen Reisen, dieses viele Drumherum jenseits der Momente, wo man auf der Bühne steht, die ganzen Empfänge, all das, was man absolvieren muss. Das ist sehr viel.

Andererseits habe ich auch sehr viel Spaß daran, und ich möchte überhaupt nicht den Eindruck erwecken, dass das nur eine Last ist, sonst würde ich das nie im Leben machen. Dennoch: Der Preis ist hoch. Auch das stundenlange Üben ist nicht immer ein Vergnügen, acht bis zwölf Stunden, neue Werke einstudieren, das Dranbleiben, die Qualität halten, das ganze Management, man hat fast keinen Freiraum. Auch wenn man meinetwegen am Meer liegt. Du musst immer ein paar Saisonen im Voraus planen. Aber im Grunde geht es nicht darum, ob das ein hoher Preis ist oder nicht. Das ist eine Art des Lebens, eine Philosophie, ich brauche das.

Berichte über Ihre Konzerte strotzen nur so von Elogen auf Ihren bubenhaften Charme, die Leichtigkeit, mit der Sie spielen, und was es sonst noch an einschlägigen publizistischen Versatzstücken gibt. Wie viel Angst ist mit Ihrer Arbeit verbunden?

Sehr viel, immer, auch Panik. Große Panik ein paar Tage, manchmal auch Monate vor gewissen Konzerten; da geht dir dann ein bestimmtes Datum nicht mehr aus dem Kopf.

Das Gefühl ist: Du beginnst immer bei Null. Egal wie oft du schon etwas gemacht hast. Du musst das Publikum immer wieder von Neuem erobern. Darum gibt’s aber auch keine Abnützungserscheinungen, weil für mich immer alles von vorn anfängt. Das ist immer spannend: Werde ich versagen oder nicht? Kann ich das Publikum anziehen? Kann wieder diese Atmosphäre im Saal entstehen? Bringe ich meine Leistung? Es ist und bleibt eine Gratwanderung. Es kann so viel schiefgehen. Und es geht auch vieles schief.

Sie hatten vor einigen Jahren Auseinandersetzungen mit Ihrem damaligen Platten-Label, Sony Classics. Welchen Einfluss hat die Musikindustrie heute auf Ihr Musikrepertoire, mit wem Sie spielen, wo Sie spielen?

Die hat deshalb im Augenblick überhaupt keinen Einfluss, weil ich mit keiner Aufnahmefirma einen Vertrag habe. Das ist für mich ein sehr emotionales Thema, denn ich habe so viel Repertoire fertig, das ich sofort aufnehmen könnte und mit einer riesigen Inspiration aufnehmen würde, aber es interessiert keinen, denn das gibt es schon. Das ist für sehr viele Musiker ein großes Problem, ich bin da nicht allein. Aber: Das Konzertleben ist wunderbar, die Säle sind voll, das würde ich nie im Leben eintauschen. Und ich hab‘ natürlich große Projekte, auch mit Sony, die haben aber nichts mit klassischer Musik zu tun.

Sondern?

Da geht’s um Crossover.

Es ist nicht lange her, da haben Sie dieses Segment abgelehnt. Mittlerweile sind Sie mit einer Gruppe wie „Triology“, die genau in diesem Bereich angesiedelt ist, immer wieder auf der Bühne zu sehen. Wie kam es zu diesem Sinneswandel?

Sie müssen wissen, jedes Jahr in meinem Alter schaut ganz anders aus. Und früher wäre das für mich auch völlig falsch gewesen, mich in andere Gebiete zu stürzen, außerhalb der konservativen Klassik. Es war sehr wichtig, dass ich mir behutsam jede Stufe aufbaue; wenn ich einmal mit dem, dann mit jenem angefangen hätte, das wäre der Tod für mich gewesen. Sämtliche Konzertveranstalter hätten mich zu dieser Zeit nicht mehr gerufen, hätten gesagt: Der Rachlin, der macht Sachen, das geht nicht. Das ist nicht seriös.

Das war vor nicht allzu langer Zeit noch so. Jemand, der beispielsweise Filmmusik aufgenommen hat, galt als nicht seriös. Dass das ein Schwachsinn ist, war mir auch damals schon klar. Warum kannst du nicht Bach-Sonaten spielen oder Beethoven-Zyklen machen und nachher dich mit Billy Joel zusammensetzen oder eben mit „Triology“ und irgendetwas spielen? Heute kann ich offen darüber sprechen, damals ging das nicht. Zu Vangelis habe ich beispielsweise auch eine fantastische Beziehung, er schreibt für mich ein Violinkonzert, wir machen das sehr, sehr langsam, wir möchten es erst zur Olympiade rausbringen, 2004 in Athen. Und wenn alles gut geht, werden wir es aufnehmen. Das ist eine unglaublich spannende Arbeit, denn Vangelis kann keine Noten schreiben, und ich kann nicht improvisieren, er ist ein Genie, ich brauche einfach ein blödes Blatt Papier, auf dem Noten drauf sind, sonst bin ich wertlos.

Dass ich klassische Konzerte spiele, das ist mein Standbein, von Vivaldi bis Penderecki – und alles dazwischen. Das ist mein Kern, doch jenseits davon bin ich für Projekte, die einen Sinn haben, immer zu haben.

Wann hat ein Crossover-Projekt Sinn?

Das liegt einfach in der Verantwortung des Künstlers. Ich möchte nicht einfach irgendwas mit irgendjemandem Berühmten machen. Ich hätte sicher das eine oder andere zusagen können und hätte meinen Vertrag mit einem Label. Aber das ist mir zu wenig. Die Sache mit Vangelis ist auch nicht so entstanden, dass Agenten andere Agenten angerufen haben. Das ist einfach aus Zufällen, aus Freundschaften entstanden, aus gemeinsamem Musizieren, privaten Treffen.

Es gibt Virtuosen, die nicht zuletzt dadurch in die Geschichte eingegangen sind, dass sie mehr Abende abgesagt haben als gespielt. Wie verhält sich’s damit bei Ihnen?

Ich bin ein ganz Braver. Ich sag‘ ganz wenig ab.

Im Durchschnitt pro Jahr?

Na ja, höchstens fünf Auftritte von 130. Ich springe außerdem sehr gern ein, bin ganz schnell überall, ich liebe das. Und ich sehe keinen Grund, 130 Konzerte zuzusagen, um sie dann alle abzusagen. Ich weiß nicht, was da bei anderen los ist. Aber gut, jeder macht’s auf seine Art.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 14. Dezember 2002

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