Usbekistan: Chiwa? Gibt es nicht.

Ein Drittel Monatslohn für eine Flasche Bier. Sieben Stunden Kurvenfahrt auf schnurgerader Piste. Kein Khan, kein Emir mehr, stattdessen ein Diktator. Und dennoch Sehnsuchtsland? Usbekistan: Nachrichten von der Seidenstraße.


Das Kamel trottet im Kreis. Immer und immer wieder. Manchmal hält es vor der alten Backsteinmauer nebenan, dann wieder vor dem Stand des fliegenden Pelzmützen-Händlers, der jedem Passanten seine Karakul-Krausköpfe auf den Scheitel nötigt, dann wieder legt es sich unter einen der jungen Bäume, hier, im Zentrum von Chiwa.

Chiwa? Nein, Chiwa gibt es nicht. Chiwa kann es nicht geben, Chiwa kann unmöglich möglich, muss ein morgenländisches Trugbild sein mit seinen Palästen und Minaretten, seinen Moscheen und Medresen, seinem Majolika-Glanz vergangener Tage. Und tatsächlich, nichts lebt hier, und was lebt, scheint Inszenierung: die Halbwüchsigen, die in einem Hinterhof an den ortsüblich-kunstvollen Buchauflagen schnitzen, die Alte, die ein paar Straßen weiter, im Mausoleum des mittelalterlichen Volkshelden Pahlavon Maxmud, ihren Jammer ausweint, die junge Frau, die vorsichtig um die Holzsäulen der Juma-Moschee streicht, stets bereit, dem Besucher, auf den kleinsten Interessenswink hin, Ansichtskarten, Seidenschals, Strick- und Wirkwaren aller Art anzudienen, die sie auf dem gut 200 Jahre alten Steinboden ausgebreitet hat.

Drinnen, im innersten Inneren der Zitadelle, in der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Khane von Chiwa über Wohl und Wehe der Stadt an der Seidenstraße entschieden, hieven heute einheimische Touristen ihre kleinen Söhne auf eine billige Thron-Replik, drücken ihnen einen Plastiksäbel in die Hand und lassen sie für einen Fotoaugenblick eine Macht kosten, die sie niemals haben werden. Gleich hinter ihnen führen zwei Türen in den geschlossenen Thronsaal für die kühleren Jahreszeiten, Türen, so niedrig, dass es schwer fällt, sich nicht den Kopf daran zu stoßen. „Damit jeder, der vor den Khan trat, das nur in gebückter Haltung zu tun vermochte“, erläutert Alisher.

Alisher lebt in Chiwa und verdingt sich hier als Fremdenführer. Sein fließendes Deutsch stockt nur einmal, als er eine usbekische Inschrift übersetzen soll. Nein, nicht der Übersetzung wegen, sondern weil er sich schwer tut, seine neuerdings nicht mehr in kyrillischer, sondern in lateinischer Schrift notierte Muttersprache zu lesen. Mühsam und über den Umweg deutscher Laute verwandelt er fremde Buchstabenkombinationen in ein vertrautes Klangbild: „Also, hier steht: Ein Land mit einer großen Vergangenheit hat auch eine große Zukunft.“ Gezeichnet: Islam Karimow.

Nun, der muss es wissen.

Immerhin ist Karimow erster – und bisher einziger – Präsident der Republik Usbekistan und bastelt, seit sich die vormalige SSR am Südrand des Sowjetimperiums Ende August 1991 von der Moskauer Zentrale losgesagt hat, an seinen eigenen Vorstellungen von Größe. Den Herren Marx und Lenin ließ er mit Amir Timur, auch als Timur Lenk oder Tamerlan bekannt, einen Eroberer als neues nationales Idol folgen, der vorzüglich durch die sagenumwobene Brutalität seiner Feldzüge geschichtlich von sich reden machte (und im Übrigen – wiewohl selbst Moslem – ausgerechnet der islamischen Welt mit seiner Auslöschung Bagdads 1401 ein Jahrhunderte hindurch wohlgepflegtes Trauma zufügte). Und sichtlich wissend, was er solchem Vorbild schuldet, hält sich Karimow erst einmal gar nicht lange mit westlichem Firlefanz wie Demokratie und Menschenrechten auf, sondern herrscht über das Land, als seien die Tage der Khane und Emire nie zu Ende gegangen.

Der sonst so leicht moralisch entrüstbare Westen seinerseits lässt solche mittelasiatischen fünfe ohne Zaudern ethisch grad sein, denn erstens locken usbekische Ressourcen von Gold, Uran bis hin zum Erdgas, und zweitens ist halt da, wo Islamismus dräut, einer, der andernorts Diktator oder gar Despot gescholten würde, fürs christliche Abendland ein gern gesehener Garant regionaler Stabilität. Realpolitik heißt man das allgemein. Als könnte ein bisserl weniger Doppelbödigkeit nicht vielleicht auch zur Realität taugen.


268 Kilometer trennen die beiden Seidenstraßen-Städte Samarkand und Buchara. Autofahrzeit: gut sieben Stunden. Sieben Stunden Kurvenfahrt auf meist schnurgerader Piste, ein rasender Slalom zwischen engen Schlagloch-Kombinationen, der Stoßdämpfern und Rückgraten alles abverlangt. „Schauen Sie sich das an!“, schimpft Lena. „Das ist eine der wichtigsten Straßen des Landes – und niemand kümmert sich darum. Dafür gibt es kein Geld.“ Und wofür gibt es stattdessen Geld? Vielleicht für das Militär? Oder für die emsige, nun, sagen wir, Aufklärungsarbeit im Inneren, die Opposition, islamistische wie nicht islamistische, im Zaume halten soll? Lena schweigt. Schließlich will sie noch länger Touristen die Attraktionen der Seidenstraße näher bringen.

Lena stammt aus dem kältesten Sibirien, vor 20 Jahren ist sie von Jakutien mit seinen Dauerfrostböden in das Wüstenklima am ganz anderen Ende der damals noch einigermaßen unerschütterlich scheinenden Sowjetunion übersiedelt. Und: Sie lebt samt Mann und Kindern nach wie vor mit großer Freude hier. Doch vor die Wahl gestellt, hat sie sich für den russischen und gegen den usbekischen Pass entschieden. Man weiß ja nicht, in Zeiten, wo man in ihrer neuen Heimat das nationale Erbe so demonstrativ zu hegen und pflegen beginnt . . .

Viele Russischstämmige haben seit 1991 das Land verlassen, nicht selten gerade die, die der junge Staat am dringendsten gebraucht hätte: die beruflich Qualifizierteren, Facharbeiter, Lehrer, Akademiker. Und nicht wenige, die blieben, konnten gar nicht anders, weil sie von Russland nicht als Russen anerkannt werden. Tatsächlich mag sie mit ihren sogenannten Volksgenossen im Norden vielleicht die Sprache oder allenfalls die Religion verbinden, doch sonst? Der Alltag von, sagen wir, Sankt Petersburg hat mit dem zwischen Amu- und Syrdarja nicht viel mehr als das gemein, was mittlerweile schon die ganze Welt verbindet: Coca-Cola, Hamburger und schlechte Fernseh-Shows.

Dennoch: Vieler Hoffnung gilt der Ferne. Etwa die der Studenten am Taschkenter College für Tourismus, die sich auf eine Karriere im Hotelgewerbe vorbereiten. Ihr Ziel? Da sind sie sich einig, welcher Nationalität der zahlreichen in Usbekistan vertretenen auch immer angehörig. Ob Usbeke oder Tadschike, Turkmene, Karakalpake oder eben Russe, die Antwort heißt: „In den Westen gehen.“ Unausgesprochener Nachsatz: Und dort bleiben. Die Chancen dafür stehen freilich schlecht. Gut ausgebildetes Gastgewerbepersonal findet sich auch anderswo. Und nicht einmal die Wiederentdeckung alter Volksverbindlichkeiten führt heute noch ins Innere der reichen Festung namens Westeuropa. So wird der 17-jährigen Kristina weder ihr deutscher Name noch das Erlernen der deutschen Sprache zu mehr verhelfen als bestenfalls zu einem kurzen Studienaufenthalt in der sogenannten alten Heimat ihrer Ahnen – und zu einem Taferl „Ich spreche Deutsch“ auf ihrer usbekischen Hoteluniform.


370 Euro für ein Krügel. So viel bedeuteten für einen österreichischen Durchschnittseinkommensbezieher die neun Dollar, die sein usbekisches Pendant im Sheraton von Taschkent für eine Flasche Bier zu zahlen hat. Ein Drittel des Monatslohns. Für eine pensionierte Lehrerin gar fast die Hälfte, muss die sich doch mit 20.000 Sum und also knapp 20 Dollar einen Monat lang durchs Leben schlagen. Gut, es braucht nicht jeder Taschkenter Pensionist ins Sheraton Bier trinken gehen. Aber wenn ein Zehntel dieser 20.000 Sum auf dem Markt nicht mehr wert ist als ein Kilogramm eines halbwegs annehmbaren Stücks Fleisch?

Nein, von Mangel ist hier keine Spur, die Basare quellen, ausländischen Besuchern zur fortwährenden Fotofreude, über von Gewürzen und Früchten aller Art, frische Kräuter und kantige Kandiszuckerbrocken, geröstete Marillenkerne und zuckerglasierte Erdnüsse türmen sich auf hölzernen Läden zu einer paradiesischen Landschaft, als habe ein gütiger Geist über dem Platz sein Füllhorn geöffnet. Aber in diesem Paradies ist nichts gratis, und selbst den – selbstverständlichen – Touristenzuschlag abgezogen, wird sich ein Samarkander oder Taschkenter die ganze Pracht nicht allzu oft leisten können.


Mühsam kämpft sich die Morgensonne durch den gelblichgrauen Schleier, der Buchara einhüllt, alles ebnet, alles gleich macht, das Bunte und das Einfärbige, das Raue und das Glatte. Aufgewirbelter Wüstenstaub legt sich über die Häuser und Straßen, schränkt die Sicht auf ein paar hundert Meter ein, selbst von hier, vom zweithöchsten Gebäude der Oasenstadt aus, dem Hotel „Bukhara Palace“ mit seinen acht, ihre realsozialistische Betonabstammung nicht verleugnen könnenden Stockwerken. Höher ist hier kein Minarett, nur das vormalige Haus der KP ein paar Meter weiter, am Nordende des Prospekt Navoi. Wer heute dort schalte? Dieselben wie früher, erfährt man, nur die Partei nenne sich halt nicht mehr kommunistisch, sondern volksdemokratisch. Was immer das bedeuten mag.

Vier Kilometer vor der Stadt kann man den Sommerpalast des letzten Emirs von Buchara, Olim Khan, besichtigen, kann die steile Holztreppe zu dem kleinen Turm ersteigen, von dem aus der Herrscher, so es ihm beliebte, Juwelen in den nahen Teich warf, auf dass sie von seinen Haremsdamen angemessen anmutig aus den Fluten geborgen würden. Wenn er nicht gerade in seiner stadtinneren Festung tatsächliche oder vermeintliche Gegner umbringen ließ. Auch sonst muss man sich die hiesigen Emire durchaus als gemütvolle Charaktere vorstellen. Etwa jenen Ahnen Olims, Nasrullah Khan, der sich gern „Schatten Gottes auf Erden“ nennen ließ und noch am Sterbebett, 1860, sich nicht den Genuss versagen wollte, seine Frau und seine drei Töchter abgeschlachtet zu sehen, um ihre Keuschheit auch nach seinem Tod sicherzustellen.

So wird es niemanden erstaunen, dass sich die Trauer der Bevölkerung in Grenzen hielt, als die Rote Armee im September 1920 gegen Buchara vorrückte. Nach viertägigen Kämpfen war die Festung erobert, waren die dort in winzigen Zellen zusammengepferchten politischen Gefangenen befreit. Olim Khan floh ins Exil nach Kabul. Jenes Kabul, gegen das knapp 80 Jahren später US-amerikanische Truppen vorrückten – nicht zuletzt von usbekischem Boden aus.


Der Oxus liegt in seinem Bett. Und sein Bett, das ist dort, wo er gerade liegen will. Kein Mensch weiß, wie oft er, heute Amudarja genannt, im Lauf der Erdgeschichte seinen eigenen Lauf geändert hat, manchmal in den Aralsee, dann wieder ins Kaspische Meer mündend. Auf die paar hundert Kilometer mehr kommt’s einem Fluss im mittleren Asien, scheint’s, nicht an. Seit einigen Jahren zieht er es vor, weder hie noch da zu münden, das heißt, dort, wo er zumindest seit Menschengedenken zu entwässern pflegte, im Aralsee, dort trifft er nicht mehr ein, versickert, eh er sein Ziel erreicht, ohne viel Aufhebens in der Wüste. Wie sein weiter nördlich situierter Bruderfluss Syrdarja.

Was wiederum das schulbuchnotorische Ranking weltgrößter Binnengewässer gehörig durcheinander brachte: Der Aralsee, plötzlich zuflusslos, fiel vom hervorragenden vierten auf den Mittelmaß signalisierenden Rang acht zurück, schrumpfte von gut 67.000 Quadratkilometern auf bestenfalls die Hälfte. Die Konsequenz: eine Umweltkatastrophe schwer nachvollziehbaren Maßes, die die ohnehin nicht eben bevorteilte Region rund um den See wirtschaftlich wie gesundheitlich ins Elend stürzt.

Freilich: Wer zählt die Theorien, nennt all die Wissenschaftler, die schon mit der ultimativen Erklärung für das scheinbar so mysteriöse Geschehen zur Stelle waren. Sind die üppigen Bewässerungsentnahmen am vorzeitigen Versiegen der Flüsse schuld, die ihrerseits wiederum erst das Überleben der für Usbekistan unverzichtbaren Baumwollproduktion sichern? Oder hat sich gar der Aralsee tektonisch ein wenig in die Höhe geschoben, während sein Großseen-Pendant am Kaukasus ein Stückchen tiefer sank?

Faktum sind jedenfalls Hunderte Kilometer immer wieder geborstener Bewässerungskanäle, die den Autofahrer auf usbekischen Straßen so regelmäßig begleiten wie die Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht. Faktum ist, dass es nicht ohne Folgen bleiben kann, wenn etwa im Land um Chiwa jedes Feld in jedem Frühjahr mehrmals unter Wasser gesetzt werden muss, um den Boden anbautauglich zu entsalzen. Woher das Wasser kommt? Aus dem Amudarja. Wohin es geht? In eigens angelegte Salzwasser-Entsorgungsreservoirs in der Wüste. Den Rest erklärt der Hausverstand.


Jürgen hat noch einen weiten Weg vor sich. Eben am Taschkenter Flughafen angekommen, muss er, es ist drei Uhr morgens, ins Auto wechseln, über die tadschikische Grenze fahren, um wieder ein Flugzeug zu erreichen, das ihn an seinen derzeitigen Wohnort, in die tadschikische Hauptstadt Duschanbe, bringt.

Trotz so kurioser Komplikationen kehrt Jürgen, Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation, gern zurück. Bei seinem kurzen Heimaturlaub sei ihm das bayrische Zuhause ziemlich fremd erschienen, obwohl er doch erst einige wenige Jahre mit seiner Familie hier, in Mittelasien, lebe. „Aber wissen Sie, die sozialen Kontakte, das Verhältnis von Mensch zu Mensch, diese grundsätzliche Wärme, die Gastfreundschaft, all das geht einem ziemlich ab, wenn man es plötzlich nicht mehr spürt – wie bei mir daheim, in Deutschland.“ Dennoch, wenn seine beiden Kinder ins Schulalter kommen, wird er wieder nach Deutschland gehen, einfach der besseren Ausbildungsmöglichkeiten wegen. „Aber ich weiß schon heute, dass mir etwas fehlen wird.“


Das Kamel trottet im Kreis. Immer und immer wieder. Und es wird morgen im Kreis trotten, wie es gestern im Kreis getrottet ist und wie es übermorgen im Kreis trotten wird, wird darauf warten, dass sich irgendein neugieriger Tourist auf seinen deckenbedeckten Rücken schwingt, und dann wird es das, was es sonst auch tut, nun eben mit einer Last auf dem Rücken tun: im Kreis trotten, mitten im Zentrum der alten Seidenstraßen-Stadt Chiwa. Entwicklung? Gibt es hier nicht. Und falls doch einmal, dann nicht zum Besseren. Hoffnung? Die liegt in einem fernen, unerreichbaren Reich irgendwo jenseits der Grenzen.

„Ein Land mit einer großen Vergangenheit hat auch eine große Zukunft“, lässt uns Islam Karimow kalenderblattklug in der nahen Zitadelle wissen. Und die Gegenwart? Die sitzt als ein alter Mann am Labi-Hauz, dem Herzplatz von Buchara, und bietet, einen sowjetischen Orden am Revers, Ansichtskarten feil, die niemand kaufen will. Oder sie webt als eine junge Frau dreivierteljahrlang an einem Seidenteppich, der selbst in bester Touristenfallenlage Samarkands keine 1000 Dollar einbringt.

Usbekistans Gegenwart sind freilich auch die kleinen, von den Anwohnern sorgsam mit gekalkten Steinen eingefassten Blumenbeete, die die Dorfstraßen flankieren, als hätte man in diesem Land nicht auch noch andere Sorgen als Dorfverschönerung. Usbekistans Gegenwart ist auch eine orientalische Lebenskunst, die in vielem an hiesige Erzählungen aus längst vergangnen Tagen und in nichts an unsere Gegenwart erinnert.

Mittelasien als Sehnsuchtsort des stress- und überflusstraktierten Mitteleuropäers? Ein Stück Selbstbetrug, mag sein. Aber zumindest für ein paar Reisetage im Jahr wird man sich noch selbst betrügen dürfen.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 19. Juli 2003

Weitere Artikel