Berlin: Viele Strände, kein Meer

Ein einsames Mauerstück. Dieses „Investoren aller Länder, vereinigt euch“. Ein Luftschloss aus Geschichtsversessenheit. Und der Sexappeal der Armut. Berlin: eine Metropole auf der Suche nach sich selbst.


Ein Mauerstück steht am Potsdamer Platz. Beschrieben, bemalt, von Souvenirjägern löchrig geschlagen. Ziemlich verloren steht es da, übermannshoch, einen guten Meter breit, einer von 45.000 gleichen Betonteilen, die einst die Trennung Berlins auf ewig zu befestigen schienen. Die 44.999 anderen? Teils Berliner Gedenkstätteninventar, teils als zertifizierte Geschichtshäppchen über die ganze Welt verstreut, in der Mehrzahl freilich – und banaler noch – zerkleinert und zermahlen unter jene neuen Asphaltdecken verbracht, die das große ganze Deutschland zumindest straßenverkehrsmäßig wiedervereinigen.

„Die Mauer wird auch in 50 oder 100 Jahren noch bestehen bleiben“, prophezeite Erich Honecker, man schrieb den Jänner 1989, im Rundfunk seiner DDR. Heute, 15 Jahre später, steht ein letztes, einsames Mauerstück am Potsdamer Platz, auf Nichtigkeit geschrumpft vor all den aktuellen Potsdamer-Platz-Architekturen, vor diesem Beton, Stahl und Glas gewordenen „Investoren aller Länder, vereinigt euch!“, das sich da hochhaushoch in den Himmel schiebt. Das soll die Mauer gewesen sein, vor der sich alle so gefürchtet haben?

Das hundertfach todbringende Trauma einer Stadt, ja eines ganzen Landes, ausgestellt und vorgeführt, der Lächerlichkeit preisgegeben, ein Dokument der Geschichte als Dekor, fescher Aufputz modernistischer Fassaden. Hie ein Stück Mauer, da, ein paar Schritte weiter, der Ampelturm, der schon in den Zwanzigerjahren den Verkehr hier regelte, heute sinnlos grün und gelb und rot signalisierend, denn keiner schaut nach ihm, ebenso verloren mitten auf dem Trottoir wie das Mauerstück, dafür umweht von jenem seltsamen Duft der Nostalgie, der in uns die Erinnerung an die brodelnde Zwischenkriegsmetropole wachruft, ohne uns gleichermaßen an lästige Nebenerscheinungen wie Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Armut zu gemahnen.


Je nun, arm ist Berlin ja auch heute, bekennt der Regierende Bürgermeister der Stadt, Klaus Wowereit: „Arm, aber sexy.“ Ein Appeal, der die Tourismuszahlen derzeit um zweistellige Prozentwerte steigen lässt. Hauptsache also, die Besucher kriegen nichts mit von den Alltagsproblemen. Und falls doch, macht’s auch nichts: Schließlich ist es, so Wowereit, „nicht unbedingt Reichtum, was Städte attraktiv macht“.

Da muss man nicht gleich an jene wohligen Schauer denken, die sich der betuchte Wohlstandsbürger bei seinen Aufenthalten in Ländern der Dritten, Vierten Welt zu bescheren pflegt angesichts einer existenziellen Not – Schrecklich, nicht? -, die er sonst nicht einmal mehr vom Wegschauen kennt. Der Nichtreichtum kann auch moralisch unanfechtbar anziehend wirken: zum Beispiel wenn er potenziellen Bewohnern niedrige Mieten beschert. Michel Goin etwa ist vor fünf Jahren nach Berlin übersiedelt, weil ihm seine Heimatstadt, Paris, schlicht zu teuer geworden war. Jetzt hält er am Hackeschen Markt seine aus altem Silberbesteck zurechtgebogenen Kerzenhalter feil und ist’s zufrieden, auch wenn das Geschäft wie in diesem verregneten Sommer einmal nicht besonders läuft: „Macht nichts, die Wohnung kann ich mir auch so leisten. Kein Vergleich mit Paris.“ Weltläufigkeit zum Diskontpreis: Wo gibt’s das sonst?

Tatsächlich ist es keineswegs nur die geballte Finanzkraft multinationaler Konzerne, die Berlin wieder zu alter Größe hinaufstemmt, zumindest genauso wichtig auf dem Weg zurück zur wirklichen Weltstadt ist der Zuzug einer jungen Kunstszene, die hier zu konkurrenzlosen Konditionen Kost und Logis findet – und nicht zuletzt eine kaufkräftige wie kunstsinnige Sammlerklientel. Wie etwa Familie Hoffmann. Acht Jahre ist es her, dass Erika Hoffmann gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann Rolf, Textilindustrielle und unter anderem mit der Nobelmarke van Laack zu einigem Kapital gekommen, das heimatliche Mönchengladbach hinter sich gelassen hat, um sich samt ihrer im Lauf von 30 Jahren angehäuften Schätze zeitgenössischster Kunst in Berlin Mitte, unweit des Hackeschen Markts, in einem ehemaligen Fabrikgebäude niederzulassen. Ihre „Sammlung Hoffmann“ in den heute sogenannten „Sophie-Gips-Höfen“ ist freilich kein Museum, sondern schlicht ihre – zugegeben reichlich großzügig auf drei Ebenen ausgebreitete – Wohnstatt, die sie jeweils samstags (und nach Voranmeldung) dem Publikum öffnet: im Jahresrhythmus neu beschickt aus einem reichen, in seinem Umfang freilich streng geheim gehaltenen Vorrat. Und es sind nicht nur die Frank Stellas, die Lucio Fontanas und andere längst kanonisierte einschlägige Größen, deren Werken man hier begegnet, sondern immer wieder Junge, noch Unbekannte. „Ich habe keine Strategie. Ich sammle einfach, was mir gefällt“, bekennt Frau Hoffmann. Der Wert spielt dabei keine Rolle, weder der gegenwärtige noch ein künftig zu erwartender. Genauso wenig die Beständigkeit. Und wenn einmal eine eigens angefertigte Installation nicht anders denn durch Zerstörung, mit Schere, Zange, Messer, abgebaut werden kann, dann ist das auch kein Malheur; schließlich war es ja nie anders denn als Vergängliches gedacht. Und jetzt ist eben Zeit für etwas Neues.


„Bitte die Jacken ablegen, Hosentaschen entleeren.“ Freundlich, aber bestimmt, das Personal, das hier alles durchleuchtet, alles durchsucht, als begehre man Einlass in irgendeine hochbrisante Geheimanlage. Hat das Jüdische Museum Berlin derart strenge Sicherheitsmaßnahmen nötig? Da bestehe leider kein Zweifel, erwidert sein Geschäftsführer, Ulrich Klopsch. So um die 50 Gegenstände, die unter das Waffengesetz fallen, entdecke man bei den Kontrollen. Monat für Monat. Und keineswegs nur zu groß geratene Taschenmesser, auch Faustfeuerwaffen aller Art. „Da können Sie sich vorstellen, was die Menschen alles bei sich tragen, mit denen Sie in anderen Museen Seite an Seite stehen.“

Wir sitzen bei „Liebermanns“, im Restaurant des Museums, ein erster Rundgang liegt hinter mir, ein zweiter muss folgen. Und ein dritter, ein vierter, ein fünfter. Alles, was über Daniel Libeskinds Bau zu schreiben war, ist geschrieben – und doch, es wurde nichts gesagt. Ja, der „Holocaust-Turm“ mit seiner beklemmenden Bedrohlichkeit; ja, die aus allen Fugen geratene Betonwelt im „Garten des Exils“; ja, die Voids, absichtsvoll in den Bau platzierte Leerstellen, sinnhaft sinnlos. Und kein Wort, nichts, was all dem gerecht zu werden vermöchte, nur die eigene Anschauung. Nein, das eigene Erleben. Nicht Architektur mehr, sondern Teil dessen, den sie umhüllt.


„Schaun Sie sich das an, eine Holocaust-Gedenkstätte und ein Mahnmal neben dem anderen, wozu?“, fragt der Taxifahrer, der mich vom Flughafen ins Hotel bringt. „Die Kinder in der Schule, die können alle KZs aufzählen, aber kein Einmaleins. Es muss doch endlich einmal Schluss sein mit der Vergangenheit.“ Nicht daheim – und doch zu Haus. Wäre da nicht der herbere Tonfall, man könnte sich auf der Fahrt von Schwechat in die hiesige Innere Stadt wähnen. Wie auch sonst Berlin bei der Wiederbegegnung nach knapp zehn Jahren dem Wienerischen merkwürdig anverwandelt scheint. Welch wunderbare Possen haben sich da etwa rund um architektonische Entscheidungen entwickelt? Nehmen wir nur Norman Fosters Reichstag-Umgestaltung, die heute – transformiert in einem schmerzhaften Prozess vielseitiger Änderungsbegehrlichkeiten – eher dem im Wettbewerb zweitgereihten Entwurf des Kollegen Calatrava ähnelt als dem Siegerprojekt des britischen Architektur-Sirs. Oder die endlose Geschichte des Straßentunnels unter dem Tiergarten, für dessen Bau eigens die Spree umgeleitet wurde. Eröffnung: 2002. Oder 2003? Nun ja, 2005. Vielleicht. Von den peinlichen Diskussionen rund um das Holocaust-Mahnmal Peter Eisenmans (wenn schon Holocaust-Mahnmal, wieso dann nur eines für die jüdischen Opfer, wo bleiben die Holocaust-Mahnmale für Homosexuelle, für Roma und Sinti und andere – und wie groß sollen die dann sein?) gar nicht erst zu reden. Das hätten wir hierzulande auch noch zusammengebracht.

Sogar eine Art absurdes Pendant zu Wiens Sophiensälen gibt es in Berlin, die Trümmer des Hotels Esplanade, wie sie der Zweite Weltkrieg zurückgelassen hat. Die hat man nach langen Jahren, da sie, hart an der Mauer situiert, unbeachtet vor sich hin verrotteten, im Zuge der neuen Hauptstadtplanung nicht einfach platt gewalzt, sondern erst, weil einem Hochhausprojekt im Wege, 75 Meter verschoben, dann renoviert und endlich der Glas-Stahl-Herrlichkeit des Sony-Centers am Potsdamer Platz eingebaut. Was es den Demokraten des angehenden 21. Jahrhunderts ermöglicht, dort, wo einst der deutsche Kaiser seine Herrenabende schmiss, auch einmal richtig republikanisch auf den neobarocken Putz zu hauen.

Mit der Vergangenheit ist es halt so eine Sache in Berlin: Da gibt es die, die man vielfach – und aus gutem Grund – mit Bedenkmälern bedenkt, eine jüngere, die der DDR, die man am liebsten ganz und gar vergessen machte, und eine ältere, die des Kaiserreichs, in deren Talmiglanz man sich zu sonnen sehnt. Stichwort Berliner Stadtschloss. 1950 wurde die Brandruine, die der Krieg im Osten Berlins hinterlassen hatte, gesprengt. „Wir hatten damals andere Sorgen, als darüber zu diskutieren, ob man das Schloss erhalten solle“, erinnerte sich Eva Kemlein, Fotografin des Sprenggeschehens, ein halbes Jahrhundert später. Und: „Es gab genug Schutt, aber nicht genügend Wohnraum und auch kein Geld.“ Heute liegt das Geld noch immer nicht auf den Berliner Straßen, aber dass das Schloss wiedererrichtet werden soll, ist mittlerweile – nicht zuletzt dank eines rührigen Fördervereins – sogar seitens des Bundestages abgesegnet. Und die Kosten, knapp 700 Millionen Euro? Die werden gewiss mühelos aufzubringen sein in einer Stadt, die sich bis vor Kurzem nicht einmal den Abriss des asbestverseuchten „Palasts der Republik“ leisten konnte, der derzeit noch, pfui, DDR, den Platz fürs künftig wieder gute alte Wilhelminische verstellt.

Und weil man schon so schön am Wiedererrichten ist, soll auch Schinkels Bauakademie aus den 1830ern, gleichfalls unter DDR-Ägide abgetragen, neu erstehen. Eine potemkinsche Schaufassade findet sich schon an Ort und Stelle. Berlin, Stadt der historisierenden Attrappen, auf der Flucht in eine längst untergegangene Epoche. Aber vielleicht ist so viel Moderne auf einmal gar nicht anders auszuhalten, so viel Foster und Richard Rogers, so viel Renzo Piano und Rafael Moneo, die gewaltige Brache in der Stadtmitte füllend, die Drittes Reich und Kalter Krieg zurückgelassen haben.


Berlin liegt nicht am Meer. Und dennoch: Strände überall. Als da wären: die „Strandbar Mitte“ im Monbijoupark, direkt an der Spree, oder der „Bundespressestrand“ gleich neben Abgeordnetenhaus und Reichstag. Das Konzept: eine Lastwagenfuhre Sand, ein paar Liegestühle oder auch Strandkörbe dazu, vielleicht noch die eine oder andere Palme – und fertig ist er, der Traum von der Ferne inmitten der Millionenmetropole, Cocktails und ein paar kleine Happen inklusive. Aufs Träumen versteht man sich hier noch immer, vielleicht so gut, wie seit vielen Jahrzehnten nicht. Und manch einem bleibt auch gar nichts anderes übrig. Träume, auf Sand gebaut? Allemal besser als gar keine.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“. „Spectrum“, 31. Juli 2004

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