Worst-Case-Gesellschaft: Gefahr ist immer und überall

Von Aktenvernichtern, Überraschungseiern, Lauschangriffen und der Sturzhelmpflicht für Fußgänger. Die Worst-Case-Gesellschaft oder: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben.


Im Anfang war der Aktenvernichter. Im Hofer-Prospekt, eingepfercht zwischen Gurkerln, Kinderpyjamas und Leberaufstrichkonserven. Und irgendwie schien er ein wenig ratlos, was er in dieser Umgebung zu suchen habe. Auch mir war es bis dahin selbst aus bestinformierten Kreisen noch nicht zu Ohren gekommen, dass CIA oder MI6 ihren einschlägigen Bedarf via Hofer-Sonderangeboten decken; selbst die heimische Staatspolizei soll sich nicht einmal in Zeiten größter Budgetnöte im Billigstsupermarkt ums Eck gerätemäßig versorgen. Blieb die Frage: Wer kauft Aktenvernichter bei Hofer? Und vor allem: zu welchem Zweck?

Jahre vergingen, und mit ihnen zogen etliche weitere Aktenvernichter-Gastauftritte in Hofer-Prospekten ins Land, später auch in der Eduscho-Versand-Broschüre, allesamt mir rätselhaft mangels jeder Vorstellung, was im allgemeinen bürgerlichen Alltag – und an was sonst konnte solches Angebot adressiert sein – so schützenswert und so bedroht sein mochte, dass man es zu Konfetti schreddern musste. Bis mir kürzlich einigermaßen überraschend Aufklärung wurde. Natürlich habe sie einen Aktenvernichter in ihrer guten Stube, erläuterte mir eine Bekannte mit der größten Selbstverständlichkeit, und zwar aus gutem Grund: Schließlich wolle sie vermeiden, dass ihre Nachbarn aus der Altpapiertonne über ihre finanziellen Umstände und andere Privatissima Aufklärung erhielten.

Ich bekenne: An diese Eventualität hatte ich bis zu jener Stunde nicht gedacht. Schon allein die Idee, die Architektin über mir oder der Chemiker von nebenan könnten ihre Freizeit damit füllen, die beiden Altpapiercontainer im Erdgeschoß nach Aufschlüssen über meine Finanz- und andere Gebarung zu durchwühlen, schien mir nicht wirklich plausibel. Andererseits, wenn ich’s recht bedachte: Hatte mich da nicht kürzlich auf dem Gang die ältere Dame aus dem siebenten Stock so merkwürdig distanziert gegrüßt, mit einem Hauch Missbilligung, als sei sie der nicht ganz jugendfreien Heftchen ansichtig geworden, die ich dieser Tage dem Recycling übergeben hatte? Und was, wenn nicht meine Entsorgung alter Kontoauszüge, mochte die Hausverwaltung veranlasst haben, von mir die Miete neuerdings zwei Monate im Voraus einzufordern, sicherheitshalber, wie man mir schnippisch am Telefon erklärte, was man hat, das hat man?

Kein Zweifel: Ein Aktenvernichter muss her! Derzeit beispielsweise, gerade recht fürs Weihnachtsgeschäft, bei Eduscho im Angebot, CD-Vernichter inklusive. Da kann ich gleich als Erstes den Wunschzettel meines Siebenjährigen zerhäckseln: damit das Christkind nicht zu viel erfährt.


Und dann war da noch die Sache mit dem „Vertraulichkeitshinweis“. Nehmen wir Folgendes an: Ein Finanzminister X ist in eine diskutable Bundesanschaffung involviert, die von einem Untersuchungsausschuss unter Vorsitz des Parlamentariers Y durchleuchtet wird. Minister X schickt in diesem Zusammenhang via E-Mail vertrauliche Verhaltensanweisungen an seine Beamten, die er irrtümlich auch an Y weiterleitet. Y liest, ist ausschussvorsitzendenmäßig empört, riecht das Ganze doch nach Zeugenbeeinflussung. Folgt nun, was folgen muss: ein Skandal? Nicht doch! Denn Minister X ist ein gewiefter Bursche und hängt an jede seiner Mails etwa folgendes Kleingedrucktes an: „Wenn Sie diese E-Mail irrtümlich erhalten haben, löschen Sie diese Mail endgültig aus Ihrem System. Das unerlaubte Kopieren sowie die unbefugte Weitergabe dieser Mail ist nicht gestattet.“ Was den irrtümlich beschickten Y naturgemäß sofort veranlasst, die bedenkliche Mail nicht zu kopieren, nicht weiterzuleiten und sofort und endgültig zu löschen, von Festplatte wie aus eigenem Gedächtnis. Skandal ist keiner, war keiner und wird nie einer sein.

So oder so ähnlich müssen sich die Erfinder dieser „Vertraulichkeitshinweis“ genannten Drohgebärden wohl den Funktionsmechanismus ihres Werks imaginieren; und erstaunlicherweise folgen ihnen weltweit immer mehr Menschen und ganze Konzerne in diesem Glauben. Weshalb sich solche und ähnliche Zusätze in immer mehr E-Mails finden.

Einmal abgesehen davon, dass ihre faktische Wirksamkeit stark gegen null tendiert und auch ihre theoretisch rechtliche zumindest fraglich ist (wie kann Y ernsthaft dazu verhalten werden, eine Information nicht zu benutzen, die ihm X ja freiwillig übermittelt hat?), abgesehen auch davon, dass man „unerlaubtes Kopieren“ und „unbefugte Weitergabe“ nicht noch eigens „nicht zu gestatten“ braucht, abgesehen davon also, dass solche Zusätze vermutlich nutzlos und regelmäßig widersinnig sind, blähen sie zu allem Überdruss die nichtigsten Banalitäten – und was wenn nicht diese dominieren den E-Mail-Verkehr – zur hochgeheimen Kommandosache auf. Unter wie vielen Kaffeehausverabredungen mag wohl mittlerweile schon der Hinweis geprangt haben: „Diese Nachricht kann vertrauliche und/oder rechtlich geschützte Informationen enthalten.“ Gar nicht zu reden, dass sich die Benutzer solcher Zusätze dem Verdacht aussetzen, sie hielten sich selber respektive ihre Mitarbeiter grundsätzlich für zu blöd, E-Mails nur an jene zu verschicken, die diese auch bekommen sollen. Alles, was schiefgehen kann, geht irgendwann schief? Vielleicht. Aber muss das die einzige Maxime unseres Denkens sein?


Mister Murphy ist an allem schuld. Zumindest wird einem amerikanischen Ingenieur namens Edward A. Murphy jr. die Formulierung jener Gesetzmäßigkeit zugeschrieben, die unser Handeln heute wie wenig anderes bestimmt. Auf einem kalifornischen Testgelände der US Air Force, sagt man, sei es geschehen, im Jahre 1949: Murphy – so die gängigste Version – war Mitarbeiter eines Testprogramms, mit dessen Hilfe geklärt werden sollte, welche Beschleunigung der menschliche Körper ertragen könne. Und als eine der Testreihen auf Grund falsch angebrachter Sensoren keine brauchbaren Ergebnisse lieferte, soll Ingenieur Murphy den Satz geprägt haben: „Wenn es zwei oder mehrere Arten gibt, etwas zu erledigen,
und eine davon kann in einer Katastrophe enden, so wird jemand diese Art wählen.“ Als „Murphys Gesetz“ und verkürzt auf „Alles, was schiefgehen kann, geht irgendwann schief“ alsbald ein globaler Hit.

Bemerkenswert daran ist nicht die Formulierung selbst respektive die – unbestreitbare – Lebenserkenntnis, die sich darin spiegelt, bemerkenswert ist, wie sehr der darin festgehaltene katastrophische Blick immer stärker unsere Sicht auf die Welt formt. Nicht der Normalfall diktiert unser Verhalten, sondern das größte anzunehmende Malheur, der Worst Case – und den in den schillerndsten Farben auszumalen reicht unsere Fantasie allemal. Also sehen wir den harmlosesten Altpapiercontainer sofort von allerlei Gelichter auf der Suche nach verwertbaren Informationen über uns durchwühlt – und wir erwerben umgehend einen Aktenvernichter, um solchem ruchlosen Beginnen jede Grundlage zu entziehen. Also versehen wir alle unsere E-Mails, sei ihr Inhalt noch so unbrisant, mit großen Warnschildern, dass sie ja brisant sein könnten, wenn sie brisant wären, ja dass sie eigentlich brisant sein müssten, weil sie ja von so wichtigen Leuten wie von uns sind.

Wir sehen: Die Worst-Case-Gesellschaft lebt im Konjunktiv. Und gegen den ist rational kein Kraut gewachsen. Was sein könnte, auch wenn es so gut wie niemals ist, könnte eben doch irgendwann einmal sein, auszuschließen ist es nicht – und so beginnen die Ausnahmen, sei ihr Eintreten noch so unwahrscheinlich, die Regeln unseres Lebens vorzugeben.

Denken wir nur an unsere Kinder – und wie wir sie in Watte packen. Keine Lade, keine Schranktür ohne Kindersicherung, Sohn oder Tochter könnten sich ja stoßen oder gar ein Messer zu fassen kriegen. Keine Herdplatte ohne Zäunchen, das den Kinderhändchen-Zugriff unterbindet, keine Treppe ohne Schranken, der den Absturz verhindert. Manchmal frage ich mich, wie ich, in eigenen Kindertagen all dieser Schutzvorrichtungen ledig, trotzdem einigermaßen unramponiert bis ins reifere Mannesalter vordringen konnte.

Besonders traurig die Existenz der allerjüngsten unter den jungen Generationen: Sieht man von Plüschbären, Beißringen und ähnlich abwechslungsreichen Vergnügungen ab, findet sich so gut wie an jedem Spielzeug drohend der Hinweis „Nicht geeignet für Kinder unter drei Jahren“, auch an den allseits beliebten Überraschungseiern; und als halbwegs verantwortungsvoller Elternteil steht man folgerichtig vor der Wahl, seinen Sprössling der gar schrecklichen Gefahr des Verschluckens eines Überraschungsei-Kleinteils auszusetzen – oder selbst von ihm gefressen zu werden, in einem Anfall gar nicht so ungerechter Kinderwut.

Stimmt schon: Die Erzeuger müssen sich mit solchen Warnsignalen vor allerlei Konsumenten-Begehrlichkeiten schützen, falls ausnahmsweise doch einmal etwas passiert. Und wir dürfen annehmen, der Tag ist nicht fern, an dem ein Hammerproduzent dafür verklagt wird, dass seiner Gerätschaft jeder Hinweis darauf mangelt, ihre Benutzung könne zu Daumenverletzungen führen. Eigenverantwortung, mündiges Denken und Verhalten: Was ist das schon in einer Welt, in der tendenziell die Kurve und nicht der Autofahrer schuld ist, wenn einer aus derselben fliegt?

Dass auch der Fall Natascha Kampusch unserer Sicherheitsproduktion neue Geschäftsfelder öffnen würde, wird niemanden überrascht haben. So war alsbald ein Grazer Unternehmen mit einem praktischen Handysender zur Stelle, der entführungsbesorgten Eltern jede Abweichung ihres Nachwuchses vom rechten Schulweg melden kann. Dass auf solche Weise nicht nur ein doch eher seltener Fall von Kidnapping, sondern auch der viel häufigere Ausflug ins Zuckerlgeschäft ums Eck, zu Freunden oder schlichte Schulbesuchsvermeidung, vulgo Schwänzen, erfasst würden, ist möglicherweise ein durchaus erwünschter Nebeneffekt. Früh muss geübt werden, was ein zufriedener Einwohner des Überwachungsstaats werden soll.


Womit wir bei den wohl fatalsten Konsequenzen unserer Worst-Case-Manie wären: den sicherheitspolitischen. Diesen haben die beiden deutschen Kriminologen und Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein und Peer Stolle eine ziemlich gründliche und ziemlich einleuchtend argumentierte Studie gewidmet. Ihre „Sicherheitsgesellschaft“ – so der Titel – strebe in einer Welt ökonomischer und anderer Verunsicherung (Stichworte: Ende des Wohlfahrtsstaats, prekäre Arbeitsverhältnisse, Auflösung sozialer Strukturen) nach Minimierung aller denkbaren Risiken um jeden Preis: Der Verunsicherung werde freilich „ein Verständnis von Sicherheit gegenübergestellt, das sich als Trugbild erweist, da umfassende Sicherheit vor Risiken gar nicht möglich ist“. Was ein Erich Kästner in die knappe Formel packte, das Leben sei eben lebensgefährlich.

Singelnstein und Stolle weiter: Die Suche nach Sicherheit produziere zwangsläufig neue und vermehrte Verunsicherung, weil die bis ins Absurde getriebenen Sicherheitserwartungen naturgemäß nicht zu erfüllen sind. Eine der Folgen: „Polizeiliches Handeln ist nicht mehr an einen konkreten Verdacht auf eine Straftat gebunden. Mittlerweile kann die Polizei schon in Grundrechte der Bürger eingreifen, um Anhaltspunkte für solche Umstände erst zu ermitteln.“ Anders gesagt: Die logische Abfolge von Tat und anschließender Tätersuche wird ersetzt durch die Suche nach potenziellen Tätern vor einer eventuellen Tat, und weil so gut wie jeder von uns potenzieller Täter eventueller Taten ist, ist auch jeder von uns verdächtig und also Ermittlungsgegenstand. All das im Dienste einer Sicherheit, die – siehe oben – Schimäre ist.

Lauschangriffe, groß und klein, Videoüberwachung von Plätzen, Straßen, U-Bahnen, „verdachtsunabhängige Personenkontrollen“, Speicherung von Handyverbindungsdaten: Da ist es nicht weit bis zur „Liste der hundert potenziell gefährlichsten Mörder und Vergewaltiger“, die britische Polizeipsychologen für das United Kingdom erstellen wollen, bevor noch ein einziger der Betroffenen die insinuierte Tat begangen hat. Wie passt es doch ins Bild, wenn dieselben Behörden desselben Landes auf Grund angeblicher Attentatspläne angeblicher Attentäter den halben internationalen Flugverkehr für Tage und Wochen ins Chaos stürzen, wie vergangenen August geschehen.


Ach ja, die Terrorwarnungen! Alle Jahre wieder. Zu Weihnachten. Zu Ostern. Und in der schönen Ferienzeit. Dass so gut wie nie etwas passiert in den so perikulösen Tagen, wen kümmert’s? Die Terrorwarner haben ja in jedem Fall recht: Passiert etwas, dann sowieso – und passiert nichts, hat die Warnung das bewirkt. Die Win-win-Situation der Bedrohungsszenaristen: Sie können gar nicht falsch liegen. Und wer wäre glaubwürdiger als einer, der nicht irren kann.

Andererseits: Wie viel Verunsicherung würde es für unser Leben bedeuten, müssten wir auf all die Verunsicherungsattacken verzichten! Am Ende müssten wir selbsttätig zu beurteilen beginnen, welches Risiko den Aufwand, es zu begrenzen, rechtfertigt und welches nicht, ja ob es denn tatsächlich existiert oder nicht doch nur Trugbild ist. Ob denn, sagen wir, eine Sturzhelmpflicht für Fußgänger sinnvoll ist, nur weil alle paar Jahre ein Ziegelstein auf einen ungeschützten Kopf fällt. Oder ob wir unsere Panik vor der Vogelgrippe tatsächlich via Gesichtsschutzmasken entsorgen müssen. Auf denen sind Gesundheitsministerin und der ihr assistierende Handel vorerst einmal sitzen geblieben: Es habe, so der Sprecher der Ministerin, das „Bedrohungsszenario Vogelgrippe“ gefehlt. Da sieht man schon, zu wie viel Insubordination wir, von jedem Bedrohungsszenario verlassen, noch immer fähig sind.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 16. Dezember 2006

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