Parkinson: Das Morgen kommt früh genug

Ich hätte es sehen können. Jeder hätte es sehen können. Wie sein Gang immer schleppender wurde. Diagnose Morbus Parkinson: ein Bericht aus der Praxis.


Ich hätte es sehen können. Jeder hätte es sehen können. Wie sein Gang immer schleppender wurde. Ich hätte es hören können. Jeder hätte es hören können. Wie sein rechter Schuh bei jedem Schritt über den Boden schlitterte. Doch nie eine Suche nach einem tieferen Grund, schließlich könnte man meinen, der sei ohnehin offenbar: ein doch schon stattliches Alter von 78 Jahren. Wen wundert es da, wenn nicht mehr alles so ist, wie es vielleicht einmal war? Morbus Parkinson? Daran denkt keiner. Das ist doch die Sache mit dem Zittern, oder? Bei Franz zittert nichts, und wenn doch, dann nicht mehr, als man es einem Menschen seines Jahrgangs zubilligt, ohne gleich nach medizinischer Assistenz zu rufen.

Und dann: die Diagnose. Der Internist empfiehlt Franz, einen Neurologen aufzusuchen. Routinemäßig? Oder mit Vorbedacht? Wie der Internist seinen Rat begründete, daran erinnert sich Franz nicht mehr. Sehr wohl erinnert er sich aber daran, wie der Neurologe ihn ins Zimmer bittet, ihn dabei mustert, seine Schritte, seine Haltung, und ihn ohne weitere Formalitäten fragt: „Wissen Sie eigentlich, dass Sie Parkinson haben?“ Parkinson: Franz hört nur dieses eine Wort – und ist „erschlagen“, wie er heute meint. Wobei er damals genauso wenig geahnt haben mag, was sich hinter dem so geläufigen Namen konkret verbirgt, wie alle anderen, die selbst noch nie persönlich mit Morbus Parkinson konfrontiert waren.

Wenig später spürt er, was auf ihn zukommt. „Ich kann Sie nicht heilen“, wird ihm in einer Spezialambulanz beschieden, „aber ich kann versuchen, Ihnen so lang wie möglich Ihre Lebensqualität zu erhalten.“ Das ist so sachlich, klar und ehrlich, dass es Franz bis zum heutigen Tag gern zitiert, wenn er von seiner Krankheit erzählt.


Im Jahr 1817 veröffentlicht der englische Arzt James Parkinson seinen „Essay On the Shaking Palsy“ und beschreibt darin ein Krankheitsbild, das ein halbes Jahrhundert später seinen Namen tragen wird: „Unwillkürliche Zitterbewegung bei verminderter Muskelkraft; in Körperteilen, die keine Tätigkeit ausführen; mit dem Drang, den Rumpf vorzubeugen und vom Gehen zum Laufschritt zu wechseln.“ Als Ursache der Krankheit vermutet Parkinson eine Störung im Bereich des Rückenmarks, zur Behandlung empfiehlt er Universaltherapeutika seiner Zeit wie Aderlass und Schröpfkopf.

Gewiss, diese „Shaking Palsy“, also „Schüttellähmung“, ist zum einen keine Lähmung im engeren Sinn, und von einem Schütteln kann auch nur bei einem Teil der Betroffenen die Rede sein; als Handlungsort der Krankheit hat man mittlerweile das Gehirn statt des Rückenmarks ausgemacht, und Aderlass & Co sind heutzutage sowieso halbwegs außer Mode. Aber im Kern sieht schon Parkinson völlig richtig, dass da ein ganzes Bündel teils durchaus widersprüchlicher Erscheinungen auf ein gemeinsames Inneres verweist, entwirft schon 1817 das Bild einer Krankheit, das mir in den Jahren, die seit Franz‘ Diagnose vergangen sind, auf seltsame Weise vertraut geworden ist. Rigor, Tremor und Akinese, das ist die schreckliche Trias, die das Leben der Parkinson-Patienten bestimmt: Rigor, eine beständig erhöhte Muskelanspannung, die jede Bewegung zum Widerstandskampf gegen die eigene Muskulatur macht; Tremor, das Zittern, das vor allem im Ruhezustand so auffällig ist und, wiewohl bei einem guten Drittel der Patienten niemals auftretend, in unseren Köpfen als „das“ Parkinson-Symptom schlechthin gilt; und die Akinese, die Verlangsamung aller Bewegungen bis hin zum Stillstand.

All das ist seit dem 19. Jahrhundert wohlbekannt. Und als ich einmal bei Wikipedia nachschlage, Suchwort Parkinson, steht tatsächlich gleich ganz oben im Eintrag Franz vor mir. Eine Zeichnung bloß, aber doch ganz er, vorgebeugt, angewinkelte Unterarme, und ich sehe ihn, wie er mit seinen kurzen Schritten gegen die Schwerkraft kämpft, die ihn fortwährend aus dem inneren und äußeren Lot zu bringen sucht, als wollte sie ihn niederringen. Zugegeben, da steht nicht wirklich Franz, das ist eine Zeichnung des britischen Neurologen William Richard Gowers aus dem Jahr 1886, die „Körperhaltung eines Mannes mit Parkinson-Syndrom“ darstellend. 1886! So lange also und noch länger ist Franz‘ Krankheitsbild der Medizin so genau bekannt, als habe man es schon damals an ihm selbst diagnostiziert.

Es ist ein Bild, dem ich heute Tag für Tag begegne: Denn genauso, wie ich lange Zeit die vorhandenen Signale bei Franz nicht sah und nicht hörte, ist jetzt die Versuchung groß, alles, was ich sehe und höre, mit Morbus Parkinson in Verbindung zu bringen. Ein zögernder Schritt in der U-Bahn, ein maskenhaft versteinertes Gesicht auf der Straße, eine ungelenke Bewegung im Supermarkt: Das kann doch nur . . . die ganze Welt bevölkert von Parkinson-Patienten. Beständig sehe ich das Bild der Krankheit vor meinen Augen, ikonenhaft, festgezurrt in meinem abendländischen Bewusstsein, wie Christus am Kreuz. Ein Christus ohne Auferstehung.


Dabei, manch einer mag sogar an eine Art Osterwunder geglaubt haben, Anfang der 1960er, in Wien, an der Neurologischen Abteilung des Lainzer Krankenhauses. Parkinson-Lahme konnten plötzlich wieder gehen, so gut wie Sprachlose wieder sprechen, kaum hatte man ihnen einen Wirkstoff namens L-Dopa appliziert. Am 10. November 1961 berichten Walther Birkmayer und Oleh Hornykiewicz in der „Wiener klinischen Wochenschrift“: „Patienten, die sich aus dem Liegen nicht aufsetzen, aus dem Sitzen nicht aufstehen, vom Stehen nicht zum Gehen starten konnten, brachten diese Leistungen nach L-Dopa-Gaben leicht zustande. Sie konnten sogar laufen und springen. Die stimmlose Sprache mit der undeutlichen Artikulation wurde wie beim Normalen kräftig und deutlich.“ Was aber hatte es mit diesem geheimnisvollen L-Dopa auf sich?

In den 1950er-Jahren hatte sich eine Substanz namens Dopamin in den Mittelpunkt des einschlägigen Forschungsinteresses gedrängt, ein Botenstoff, der, wie wir mittlerweile wissen, unter anderem im Gehirn die motorischen Zentren steuert. Untersuchungen von Hornykiewicz, in jenen Tagen am  Pharmakologischen Institut der Universität Wien tätig, erbrachten den Nachweis, dass die Dopaminkonzentration im Gehirn von Parkinson-Patienten vermindert ist. Und es war auch Hornykiewicz, der daraufhin vorschlug, das den Kranken fehlende Dopamin von außen zuzuführen: nicht direkt, da Dopamin die Blut-Hirn-Schranke nicht zu überschreiten vermag und also kaum ins Gehirn vordringt, sondern in Form seiner besser transportablen Vorstufe L-Dopa. Ergebnis: siehe oben.

Bis heute, fast ein halbes Jahrhundert später, gilt die Gabe von L-Dopa als der „Goldstandard“ der Parkinson-Therapie – wobei ja im Grunde von einer Therapie der Krankheit und ihrer – bis heute unbekannten – Ursachen selbst keine Rede sein kann, nur von einer Linderung ihres dramatischsten Symptoms. Einer „Symptomkur“ also – so nennt man bekanntermaßen alles, was die Lösung eines Problems nur vortäuscht; für Parkinson-Kranke ist sie wichtigstes Überlebenselixier.

Immerhin, irgendwie schien dank L-Dopa eine bis dahin so gut wie unbehandelbare Krankheit plötzlich behandelbar, und Morbus Parkinson kam in den Ruf, unter den neurologischen Erkrankungen noch eine der besser handhabbaren zu sein. Regina Katzenschlager, Neurologin am Wiener Donauspital und Vorstandsmitglied der Österreichischen Parkinson-Gesellschaft: „Gerade am Anfang ist das oft ein großes Erfolgserlebnis, dass man doch so viel tun kann für die Betroffenen.“ Stimmt, man könne sie nicht heilen, doch das treibe wiederum die Forscher an, „etwas zu finden, was zumindest die Zellen so weit beeinflusst, dass die Krankheit langsamer verläuft“: „Das allein wäre schon ein Riesenschritt nach vorn.“


Auch bei Franz wirkte sich die Medikamentation zunächst stabilisierend aus; da und dort ließ sich sogar eine Besserung erkennen, die Franz, und war sie noch so klein, Stück für Stück mit Begeisterung willkommen hieß: Schau, ich kann den Fuß wieder heben. Schau, ich kann den Kopf wieder drehen. Dennoch, der Verfall schlich sich an, leise, fast unmerklich, aber nicht unbemerkt. Wachsam geworden, schien Franz den Gegner sorgfältig zu beobachten und versäumte nicht, ihm, sooft es nur ging, deutlich zu signalisieren, dass an eine Aufgabe seinerseits nicht zu denken sei. Und auch wenn ihm dann und wann und später immer öfter der Muskelschmerz in die Glieder fuhr: Er drehte weiter seine Runden durch die Wiener Vorstadt, erst am Stock, später mit der beräderten Gehhilfe, dem Rollator – schließlich hatte man ihm ja nachdrücklich versichert, wie wichtig Bewegung für ihn sei.

Zunächst schrieb ich sein unbeirrbares Durchs-Leben-Schreiten einzig der Lust an der Motorik zu, an der Fortbewegung aus eigener Kraft. Heute ahne ich, dass noch etwas anderes im Spiel gewesen sein mag: der beharrliche Versuch, eine Form von Normalität aufrechtzuerhalten. Nicht dass er seine Schwierigkeiten, seine Schmerzen vor anderen oder auch vor sich selbst verschwiegen hätte; aber er leistete stets zumindest hinhaltenden Widerstand gegen alles, was er als Einschnitt in seinen Alltag empfand oder auch empfinden musste, als gelte es, unablässig zu beweisen, wer denn nun Herr in seinem Haus und seinem Körper sei: die Krankheit oder er.


Kennen Sie den? Helmut Zilk und Alois Mock verdienen ihr Geld neuerdings mit der Herstellung von Keksen. Sie backen Linzer Augen: Zilk sticht die Augen aus, und Mock schüttelt den Zucker drüber. Diese Lustigkeit kursierte, nachdem eine Briefbombe dem Wiener Bürgermeister 1993 die linke Hand zerfetzt hatte – und der österreichische Außenminister zwei Jahre später mit seiner Parkinson-Diagnose an die Öffentlichkeit gegangen war. „Es gibt so viele Arten von Morbus Parkinson, wie es Patienten gibt“, weiß Edith Mock heute. Und sie erinnert sich noch gut an die endlos lange Irrfahrt ihres Mannes durch unterschiedliche Ordinationen, die er vor der Diagnose zu absolvieren hatte: „Einer hat gesagt: Kalt auflegen. Ein anderer: Warm auflegen. Ein Dritter hat Massagen empfohlen. Irgendwann kamen diese seltsamen Kopfbewegungen, manchmal. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass das passiert, wenn Parkinson nicht oder schlecht behandelt wird. Aber niemand hat ihm gesagt, das könnte Parkinson sein.“

Regina Katzenschlager weiß, „dass es nicht selten einige Zeit dauert, bis die richtige Diagnose gestellt wird“. Der Grund: „Nicht jeder Patient bekommt gleich Symptome, die leicht erkennbar sind. Und dann – da ist noch viel Aufklärungsarbeit unter den Ärzten erforderlich – muss man wissen, dass nicht nur der Bewegungsablauf ein Problem ist bei der Parkinson-Krankheit; das ist eine Krankheit, die den gesamten Körper betreffen kann. Bei manchen Patienten sind eben andere Körperteile oder Funktionen betroffen, bevor sie irgendeine Änderung der Bewegung haben.“

In seinem Parkinson-Buch, das demnächst bei Maudrich, Wien, erscheint, zählt Willi Gerschlager, Parkinson-Spezialist am Neurologischen Zentrum Rosenhügel, Krankenhaus Hietzing, ein ganzes Bündel von Frühsymptomen auf: von Depressionen über Riechstörungen, Verstopfung bis hin zu Muskelschmerzen. Auch Regina Katzenschlager hat da ihre Erfahrungen: „Sehr typisch sind Schulterschmerzen; die Patienten werden dann zuerst zum Orthopäden geschickt, anschließend in physikalische Institute, da vergeht oft sehr viel Zeit. Das Wichtige daran: Seit Kurzem weiß man, dass eine frühe Behandlung langfristig günstig für den Verlauf der Krankheit wäre.“

Eine Erkenntnis, die für Alois Mock zu spät kommt: In den vergangenen zwei Jahren sei er – so seine Frau – „ziemlich gebrechlich“ geworden. Pflege rund um die Uhr sei unerlässlich. Und dennoch, soweit es seine Kräfte zulassen, verfolge er, was in der Welt vor sich geht. Edith Mock: „Er liest Zeitung, hört viel Radio und sieht auch fern.“ Manches allerdings interessiere ihn „gar nicht mehr“: „Zum Beispiel die Wahlkonfrontationen, da hat er sich immer nur den Anfang angeschaut, mehr hat er nicht durchgehalten.“ Das fällt einem Gesunden auch nicht leicht.


Die dem Leben eigene Ironie bringt es mit sich, dass mir – ein Sportunfall – genau an jenem Tag, an dem ich Franz zu einem Arzt begleiten soll, im linken Unterschenkel eine Muskelfaser reißt. Und für kurze Zeit bin ich genötigt, mich ähnlich verlangsamt durch den Alltag zu bewegen, wie es Franz längst gewohnt ist. Ich werde in U-Bahn-Stationen angerempelt, Passanten treten mir auf die Fersen, ich scheitere an Rolltreppen, muss lange Umwege zu Liftanlagen in Kauf nehmen; einmal verbellt mich ein Hund, wohl verunsichert, weil er meine stockend schlingernde Gestalt nicht recht einzuordnen weiß.

Kein Zweifel, noch nie davor habe ich so gründliche Vergleiche verschiedener Arten von Pflasterungen anstellen, geschweige denn beim Gehen die Kiesel zu meinen Füßen zählen können; dennoch bin ich mehr als froh, als der Spuk vorbei ist. Vier, fünf Tage, nicht mehr – eine Einübung in künftige Gegebenheiten? Nicht dass ich in meinen Fünfzigern von Vorahnungen geplagt wäre, ich könnte an Morbus Parkinson erkranken. Aber die Verlangsamung bleibt auch sonst so gut wie keinem erspart, falls es ihm vergönnt ist, ein halbwegs stattliches Alter zu erreichen. Also: Wie werde ich damit zurechtkommen?


Norbert sucht das beste Institut für sein Parkinson-Turnen. Wolfgang braucht eine behindertengerechte PC-Tastatur. Charly möchte Näheres über die Stammzellentherapie wissen. Seit Juni 2007 ist Willi Gerschlagers Parkinson-Forum online: „Ich habe gesehen, dass es in Deutschland eine funktionierende Website gibt für Patienten und Angehörige, und in Österreich hat so etwas gefehlt.“ Und mag die Resonanz derzeit quantitativ auch noch bescheiden sein – „Es wird zwar viel gelesen, aber die aktive Beteiligung ist gering“ -, die gewünschte Vernetzung der Forumsteilnehmer scheint auf gutem Weg.

So ganz nebenbei hat deren elektronischer Diskurs Gerschlager seinerseits schon manch überraschende Einsicht beschert: „Das Thema Sexualität, das wird ja in der Sprechstunde kaum angesprochen. Und genau dazu gab es im Online-Forum eine längere Diskussion: dass die Medikamentenwirkung am Anfang etwas Stimulierendes hat. Eine Frau hat sogar erzählt, dass die durch die Medikamente hervorgerufene Hypersexualität ihres Mannes für sie zum Problem wird. Das hätte ich in der Ordination nie erfahren.“

Selbstredend ist der Gedankenaustausch auch für die Betroffenen selbst fruchtbringend. Sei es online – oder im Rahmen regionaler Selbsthilfegruppen, die unter dem Dach der „Parkinson-Selbsthilfe Österreich“ zusammengefasst sind. Hier finden sich zudem weitere einschlägige Angebote – von der Physiotherapie bis hin zu Mitteilungsblättern, die jeweils Aktuelles reflektieren.

„Mit unserer Arbeit wollen wir Ihre Lebensqualität verbessern“, heißt es auf der Website; wer sich das vornimmt, der hat genug zu tun. Denn Franz ist nicht allein. Er ist einer von rund 20.000 Parkinson-Kranken in Österreich. In seiner Altersgruppe, 80 plus, sind dreieinhalb Prozent der Bevölkerung betroffen, bei den über 60-Jährigen auch schon knapp zwei Prozent; selten, aber doch möglich sind Krankheitsfälle unter 40 Jahren.

Da sollte es keine Welt-Parkinson-Tage (heuer auf den Karsamstag fallend) und kein Namedropping prominenter Patienten (Muhammad Ali! Michael J. Fox!) brauchen, um das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken und wachzuhalten – an einer Krankheit, die jeder im Mund führt und niemand kennt. Morbus Parkinson: wie sein neurodegenerativer Bruder Morbus Alzheimer fürwahr eine Volkskrankheit – bei jeder Hüttengaudi gern gesehener Gast, nur so ganz genau wollen wir ihn lieber nicht kennenlernen.


Ich weiß nicht, welche Angst in mir größer ist: die, mich nicht mehr selbstbestimmt bewegen zu können – oder Stück für Stück meinen Verstand zu verlieren. Ich weiß nur, dass Franz, je mehr er die Herrschaft über das eine verliert, umso beharrlicher das andere gegen Zumutungen jeder Art verteidigt. Natürlich, sagt er, hat er den Termin bei der Hautärztin nicht vergessen. Natürlich, sagt er, kann er die knapp 20 Tabletten von zehnerlei Art wie vorgeschrieben über den Tag verteilt applizieren. Und wer will ihm verdenken, dass er diesbezügliche Zweifel übel nimmt?

Immer wieder, berichtet er, begegne er Menschen, die glauben, weil er körperlich behindert sei, könne es auch in seinem Kopf nicht mehr ganz stimmen. Und tatsächlich, wie hartnäckig erkundigt sich der Herr Doktor, der ihn pflegestufenmäßig einschätzen soll, bei mir, wie es ihm, Franz, denn gehe, als wäre er, Franz, gar nicht da. Oder er spricht Franz mit diesem gütig-abschätzigen Wir an, das die unterstellte Insuffizienz des Gegenübers im Ton trägt: „So, und jetzt gehen wir zur Bank und machen uns den Oberkörper frei, ja, und jetzt versuchen wir, hinter unseren Kopf zu greifen, ja, und jetzt fassen wir noch zu unseren Füßen . . .“

Stimmt schon, bei längerer Fortdauer der Parkinson-Krankheit entwickelt ein großer Prozentsatz der Patienten „deutliche kognitive Defizite“, wie man das technokratisch-beschönigend nennt. Ein großer Prozentsatz. Aber nicht jeder Patient. Und jedenfalls nicht so, dass man mit einem mittlerweile zum Mittachtziger Vorgerückten in einer Art reden darf, wie es auch einem Zweijährigen gegenüber nicht angemessen wäre.


„Das Leben geht weiter“, sagt Franz des Öfteren. Und oft klingt es nach Resignation. Dann wieder blitzt es aus seinen Augen, und eine Ahnung von Überlebenslust kehrt in ihn ein. „Viele glauben ja: Mein Gott, ihr tuts da nur herum, und eure Patienten werden immer schlechter“, erzählt Willi Gerschlager. „Ich sehe das ganz anders. Ich sehe Tag für Tag, wie sehr die Menschen leben wollen, und dann muss man ihnen die Hilfe anbieten, wie sie das trotz der Behinderung schaffen können.“ Solange es noch halbwegs geht. Also jetzt. Hier und heute. Das Morgen, das kommt früh genug.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 11. April 2009

Weitere Artikel