Reinhard Urbach: „Immer im Protest“

„Der glücklichste Tag meines Lebens war der 9. November 1989.“ Reinhard Urbach, Chefdramaturg an der Burg unter Benning, über DDR-Jugend und Mauerfall, Doppelzüngigkeit, Regietheater und seine ganz private Goethe-Baustelle.


Reinhard Urbach, Sie sind in Weimar, im Osten Deutschlands, geboren, Sie feierten Ihren zehnten Geburtstag, da hatte man die DDR eben erst gegründet, drei Tage nach dem Fall der Mauer stand Ihr Fünfziger an. Jetzt, vor Ihrem Siebziger, reden alle von 20 Jahren Mauerfall, Sie selbst leben seit bald einem halben Jahrhundert in Wien: Welche Bedeutung hat und hatte die DDR für Sie?

Ich muss von hinten anfangen: Der glücklichste Tag meines Lebens war der 9. November 1989, weil sich da eine Belastung aus der Vergangenheit mit einem Schlag gelöst hat. Da ist mir auch bewusst geworden, dass ich von diesen Wurzeln nicht loskomme. Ich habe innerhalb der DDR und dann im Grunde ein Leben danach immer im Protest gelebt gegen diese Jugend, gegen diesen Staat, gegen die Doppelzüngigkeit, die man zwangsläufig gelernt hat. Man hat zu Hause gesagt bekommen, sag das nicht, was wir im Radio hören, man wuchs in einer Gespaltenheit auf, die dem Charakter nicht zuträglich ist.

Sie sind schon mit 18 Jahren in den Westen gegangen. Wieso?

Ich hab mit 17 maturiert, hab nicht studieren dürfen, weil ich kein Arbeiterkind war, mein Vater war Angestellter in einer Eisenwarenfirma. In einem solchen Fall musste man ein sogenanntes Berufsjahr absolvieren, das einen zum Arbeiter machte. Der Betrieb, in dem ich gearbeitet habe, war das Mähdrescherwerk in Weimar, und das sollte Armeeangehörige werben, es gab ja noch keine allgemeine Wehrpflicht, man wurde geworben zur sogenannten kasernierten Volkspolizei. Die wollten auch mich dorthin entsenden. Ich komme nach Hause, es war ein Mittwoch, erzähle das meinen Eltern, sage, zur Armee gehe ich nicht. Und zwei Tage später war ich weg.

Wie lief das ab, 1957, in einem Deutschland ohne Mauer?

Man kaufte eine Fahrkarte nach Berlin, und zwar unbedingt mit Rückfahrkarte, das war wichtig; man nahm nichts mit und wahrte so den Anschein, dass man zurückkommt. In Ostberlin setzte man sich in die S-Bahn und fuhr über die Grenze. Dort gab es ein Auffanglager, man durchlief ein Verfahren, aufgrund dessen man einen Flüchtlingsstatus erhielt. A waren die Vertriebenen aus dem Osten, B die politisch Verfolgten, C die mit Anlass, also auch ich. Meinen Anlass hat man akzeptiert, und auf dieser Grundlage hat man mir ein kleines Stipendium zugesprochen – ich hatte ja kein Geld, keine Verwandten oder sonstige Beziehungen im Westen.

Wann waren Sie das erste Mal wieder in Weimar?

1976, zum Begräbnis meines Vaters. Auch für meine Eltern war all das sehr schwierig.

Sie haben zunächst in Köln, dann in Bonn Germanistik studiert. Wie kommt man da auf ein so österreichisches Dissertationsthema wie Arthur Schnitzler?

Ich bin nach Bonn gegangen, weil dorthin ein Professor berufen wurde, der als der Beste seiner Zeit galt: Richard Alewyn. Der war der große Hofmannsthal-Spezialist. Ich wollte bei ihm dissertieren, sagte aber: Hofmannsthal macht bei Ihnen jeder, ich möchte über Schnitzler arbeiten, der sozusagen gleich daneben liegt. Alewyn hat mir einen Empfehlungsbrief gegeben an Schnitzlers Sohn, Heinrich, in Wien. Der hat mir daraufhin die Tore geöffnet zu seinem Archiv – das war für mich ein großer Durchbruch.

1968 hab ich dann die erste Schnitzler-Monografie nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht – das erzählt eigentlich alles über die Schnitzler-Rezeption der Nachkriegsjahre. Als ich Alewyn das erzählt hab, hat er gesagt: Haben die denn dort keinen Österreicher gefunden? Das ist mir später immer wieder passiert, man hat sich immer wieder gewundert, dass ich als Deutscher mich ausgerechnet auf Nestroy und Raimund und Schnitzler spezialisiert hab.

Das Wien der Sechziger: Da denkt man an die Proteste gegen die antisemitischen Sager des Taras Borodajkewycz, seines Zeichens Professor an der Hochschule für Welthandel, oder an die sogenannte Uni-Ferkelei.

Ich war natürlich auf der Straße bei dieser Borodajkewycz-Sache, wir waren alle sehr aufgebracht. Völlig neu war mir die Diskursfreudigkeit, die in dieser Zeit aufbrach. Die habe ich in meiner eigenen Studentenzeit, bis 1964, nicht erlebt: Man hat gewusst, das sind alte Nazis, man hat über sie gelacht, aber man hat sie nicht zur Rede gestellt.

Wie ging’s der zeitgenössischen Literatur?

Es gab damals eine durchgehende Ablehnung der jungen Literatur durch die Medien, eine durchgehende Entrüstung. Das Gefühl, das unsereiner hatte, das war die Empörung über diese Entrüstung. Man machte etwas, und das wurde nicht akzeptiert, weil es angeblich die Sittlichkeitsgrenze überschritt. 1968 bin ich zu Wolfgang Kraus in die Gesellschaft für Literatur gekommen. Wir haben lange Zeit an einem Strang gezogen, bis ich gemerkt habe, dass auch Kraus an der jüngeren Literatur, also an den mit mir Gleichaltrigen, Frischmuth, Wolfgang Bauer, der ganzen Grazer Gruppe, nicht wirklich interessiert war. Ich hab mir gedacht, das kann so nicht bleiben, und hab Bürgermeister Gratz vorgeschlagen: Wien hat kein Literaturhaus, da muss man etwas tun. Gratz hat gesagt: Wir haben da gerade in der Innenstadt eine Schmiede gekauft. Das war der Beginn des Literarischen Quartiers in der Alten Schmiede. Ich bin von der Gesellschaft für Literatur ins Kulturamt gewechselt und hab für mich ein Literaturreferat eingerichtet, das hatte bis dahin der Wissenschaftsreferent sozusagen mit links mitbetreut.

Nächste Station: das Burgtheater unter Achim Benning. Sie hatten mit dem Theater bis dahin beruflich nichts zu schaffen, dennoch stellte Sie Benning als Dramaturg ein. Wieso?

Ich kann es mir nur zusammenreimen: Ich hatte einiges publiziert, vor allem zu Schnitzler und zum Wiener Volkstheater, und das hat er gekannt. Er hat mich eingeladen zu einem Gespräch, ich sollte den Kontakt zu Heinrich Schnitzler herstellen, und am Ende dieses Gesprächs hat er mich gefragt.

Gräbt man heute im öffentlichen Bewusstsein, fördert man zwei Burgtheater-Bilder zutage: ein verstaubtes, altväterliches, an den Fünfzigern, Sechzigern geschult, ein modernes ab und mit und nach Peymann. Dazwischen liegen nicht zuletzt zehn Jahre Benning: Wieso sind die gleichsam verschwunden?

Vielleicht weil das Aktuelle aufsehenerregender war oder spektakulärer: Das will ich gar nicht bewerten. So ganz genau kann ich mir das selber nicht erklären.

Hat das auch mit Persönlichkeitsstrukturen zu tun? Der laute Claus Peymann fällt eben mehr auf als der nicht so sehr in den Vordergrund drängende Achim Benning.

Benning hat gewartet, dass man kommt, er ist nicht so sehr auf die Medien zugegangen, wir alle nicht, das ist sicher ein Grund, der dürfte aber nicht die Erinnerung zerstören.

An Peymann klebt ja auch die Erinnerung an die Usurpation des Burgtheaters durch „die Deutschen“. Spätestens mit Ihnen und dem aus Magdeburg gebürtigen Benning hatte die längst stattgefunden.

Das war auch Thema, es wurde sehr stark mit „links“ identifiziert und angegriffen, bis hin zu Anfragen im Parlament. Wobei nicht nur die Leitung aus Deutschland stammte, sondern auch wichtige Schauspieler, Kappen, Bißmeier, die wurden aber eher akzeptiert. Nur als Norbert Kappen Schnitzlers Professor Bernhardi gespielt hat, gab es einen Aufschrei; aber da konnten wir uns auf Schnitzler berufen: Der ist einmal von einer Berliner Bühne gefragt worden, wer für eine Rolle vorzuziehen sei – eine gute Berlinerin oder die authentische Österreicherin. Und da hat er geantwortet: die bessere Schauspielerin. Heute ist das kein Problem mehr, das ist gelaufen.

Dafür polemisiert man bis heute unverdrossen gegen etwas, was man „Regietheater“ nennt, zuletzt etwa Daniel Kehlmann bei den Salzburger Festspielen.

Diesen Begriff hab ich nie verstanden. Alles ist Regietheater, es gibt nur mehr oder weniger gute Konzepte, und die Aufspringer, die dann glauben, sie müssen alles kaputtmachen, von hinten aufzäumen, die erledigen sich von selbst. Die Großen, die mit neuen Visionen, die bleiben.

Mit dem Engagement Peymanns als Burgtheaterdirektor war das Ende Ihrer Burgtheaterzeit gekommen. Warum eigentlich?

Peymann hat seinen Chefdramaturgen mitgebracht, da wäre für mich kein Platz gewesen. Ich war allerdings unkündbar im Burgtheater, hätte bleiben können, hätte dann aber in irgendeinem Ausgedingezimmerchen überleben müssen. Und in diesem Augenblick kam die Anfrage über Helmut Zilk, ob ich mich nicht für das Theater der Jugend bewerben möchte.

Wann haben Sie bemerkt, wie nah das einer „Mission impossible“ kam?

Das gab’s gar nicht – die Angst vor dem Himmelfahrtskommando, die mir schlaflose Nächte bereitet hätte, die hab ich nie gehabt. Aber es war eine sehr mühsame Arbeit. Ich habe alte Strukturen nicht zerhauen, ich hab versucht, sie langsam zu dem zu ändern, was ich mir vorgestellt hab. Ich hab versucht, eine kinderbezogene Dramaturgie einzuführen, Produktionen zu machen, die den Kindern neue ästhetische Formen zeigen.

Das lief nicht immer friktionsfrei, es gab doch etliche Konflikte.

Hauptsächlich inhaltlicher Art. Wir haben beispielsweise Aufklärungsstücke gezeigt, wie sie seit den Siebzigern in Deutschland geläufig waren, und die sind auf Protest gestoßen – aber ich hab sehr viel Unterstützung seitens des Stadtschulrats bekommen. Ich erinnere mich an ein Aufklärungsstück, bei dem die Kinder, Sechsjährige, am Anfang gefragt wurden, welche Ausdrücke sie für ihre Geschlechtsteile kennen – und Sie können sich nicht vorstellen, wie verblüfft die dabeisitzenden Eltern waren, was da alles kam.

Seit 2002 sind Sie im Ruhestand. Wie langweilig ist Ihnen?

Ich kann endlich die vielen Bücher, die sich in meinen Theaterjahren angehäuft haben, abarbeiten und hab da einige Baustellen aufgemacht, eine Goethe-Baustelle, eine Stifter-Baustelle. Und wie im Theater das Probieren die größte Freude macht, so recherchiere ich jetzt und hab nur das Problem, etwas zu einem Abschluss zu bringen. Ich arbeite zum Beispiel an einem Goethe-Buch . . .

Worüber?

Über die Doppelzüngigkeit bei Goethe – ein unbeackertes Feld.

Doppelzüngigkeit, Goethe – eine Rückkehr zu den Weimarer Wurzeln?

Jedenfalls eine zur Literatur.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 7. November 2009

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