Pfarrer Bergers fehlende Seiten

Österreich 1945. Ein Dorf an der Grenze. Ein Pfarrer, der freimütige Dorfannalen schreibt – und für die SPÖ in den Gemeinderat einzieht. Ein Kardinal, der ihn abberufen lässt. Die Pfarrchronik von Unterretzbach: Geschichte als Lokalereignis.


„Seite 108 f. von mir entfernt. Th. Kard. Innitzer“, steht in dicht gedrängten Buchstaben auf Seite 110 der Unterretzbacher Pfarrchronik, Band 1940 ff. Und vielleicht hätte der Erzbischof von Wien im Zuge seiner Visitation im Mai 1946 noch andere Seiten eliminiert, hätte er nur weit genug zurückgeblättert. Sagen wir zur Seite 86, auf der ihm ein aufmüpfiger Pfarrergeist bescheinigt, Seine Eminenz habe sich „durch sein ,Heil Hitler‘-Schreiben und -Schreien politisch unmöglich gemacht“. Derselbe aufmüpfige Pfarrergeist jedenfalls behält auch auf Seite 110 das letzte Wort: „Sapienti sat‘!“ hat er in schwungvoll ausufernden Schriftzügen unter die zwänglerischen Krakel seines erzdiözesanen Herrn gesetzt. Zu Deutsch: Dem Wissenden genügt das! Aber wer ist schon ein Wissender, heute, mehr als sechs Jahrzehnte später? Und also: Was mag den hohen geistlichen Herrn so sehr erzürnt haben, dass er gleich selbst Hand anlegte und zwei Seiten Pfarrchronik entfernte?

Es ist Recherchearbeit, die mich Anfang 2005 an die tschechisch-österreichische Grenze führt. Ich gehe den wenigen Spuren nach, die ein Fall brutaler Wehrmachtswillkür hinterlassen hat: Ein selbst ernanntes Feldgericht hatte in einem Wald nächst Mitterretzbach eine auf immer unbekannte Zahl vermeintlicher Deserteure füsilieren lassen – bis in die letzten Stunden des Nazi-Regimes (mein Bericht darüber erschien im „Spectrum“ vom 30. April 2005). Die Mitterretzbacher Pfarrchronik ist das einzige zeitgenössische Dokument dieser Ereignisse, und so beginne ich gleichsam routinemäßig, auch die Pfarrchroniken der umliegenden Dörfer zu durchsuchen. In den meisten schlägt mir katholisch-chronikale Beiläufigkeit entgegen: Was wurde zu Weihnachten gesungen? Wie viele Schäflein besuchten den Ostergottesdienst? Dazu vermischte Nachrichten, vor allem zu Wetter und Ernteertrag. In Unterretzbach ist alles anders: Da zeichnet ein Pfarrer mit Verve und fallweiser Wut ein Sittenbild seiner Zeit und seiner Gemeinde, als gelte es, Rechenschaft zu legen für künftige Generationen. Sein bürgerlicher Name: Karl Berger. In seiner Ordensgemeinschaft, den Lilienfelder Zisterziensern: Pater Alberich.

„Geboren 20. XI. 1895 in Wien. Name und Stand des Vaters: Ludwig, Fleischhauer. Kriegsmatura im November 1914. Beim Militär: 1. XII. 1914-20. XI 1918.“ Im Jänner 1919 fügt Karl Berger dieses Curriculum einem Brief an das Stift Lilienfeld bei: „Nach reiflicher Erwägung erlaube ich mir, hochwürdigstem Herrn Prälaten meine Bitte um gütige Aufnahme in den Orden der Cistercienser des ehrwürdigen Stiftes Lilienfeld vorzulegen.“ Keine sechs Tage nach seiner Rückkehr aus dem Feld ist er ins Priesterseminar in Wien eingetreten, doch das scheint ihm viel zu weltlich, um die Erfüllung seiner Ideale zu gewährleisten. Als da wären: „Vor allem trachte ich, ein asketisches Leben zu führen, welches die Grundlage für meine zukünftige Tätigkeit als Priester bilden soll.“

Weder die Untertänigkeit, die aus den Zeilen des 23-Jährigen dampft, noch die angesprochene Askese werden in den folgenden Lebensjahrzehnten zu den herausragenden Charaktermerkmalen Bergers zählen. Schon das „Hauptgrundbuchblatt“ des k. u. k. Rekruten hält in der Rubrik „Etwaige Gebrechen“ ein lakonisches „mäßig fettleibig“ fest. Und nimmt man die beiden wuchtigen Sessel auf dem Unterretzbacher Pfarrhof-Dachboden als Maß, die laut glaubwürdiger Überlieferung aus seinem Besitz stammen, dann muss Berger eine förmlich überquellend stattliche Erscheinung gewesen sein. Dass solche physische Präsenz nicht nur auf opulentem Schweinsbraten-Genuss gegründet war, lassen Werkzeuge vermuten, die sich in Bergers Nachlass fanden. „Der muss Kräfte gehabt haben wie ein Bär“, meint Karl Söllner, Großneffe der Haushälterin Bergers, Maria Hogl. „Da waren Schaufeln dabei, da war man schon müd, wenn man die nur gehoben hat.“ Seine Großtante habe erzählt, der Pfarrer sei mit so üppig dimensioniertem Gerät den ganzen Tag am Werk gewesen: Er habe halt immer „etwas ein bisserl Größeres“ gebraucht.

Ein bisserl größer als einer Existenz in subalterner Demut zukömmlich muss wohl auch des angehenden Pfarrherrn Selbstbewusstsein alsbald gewesen sein: Schon während seiner Studienzeit in Innsbruck weist man die Lilienfelder Ordensoberen darauf hin, der (Noch-)Frater Alberich werde darauf achtgeben müssen, „dass er in seinen Anschauungen nicht zu frei wird“. Sein erster pfarrlicher „Lehrherr“ im niederösterreichischen Wilhelmsburg meint gar, in seinen Predigten „Politik“, ja schlimmer noch, „kommunistische Anschauungen“ vernommen zu haben. Bis heute jedenfalls hält sich im Gedächtnis älterer Unterretzbacher Pater Alberichs schnoddriges Bekenntnis, unter seiner schwarzen Kutte trage er eben rote Unterwäsche. Das Professbuch des Stiftes Lilienfeld wiederum beschreibt ihn distanziert als „sehr eigenwilligen Charakter“, der „häufig in heftigem Widerspruch zu kirchlichen und weltlichen Behörden“ stand. Nicht zuletzt im Widerspruch zum eigenen Orden, wenn er’s für geboten hielt.

Als Pater Alberich am 16. August 1934 die Stift Lilienfeld angehörige Pfarre Unterretzbach übernimmt, da ist auch sein „Fräulein Mizzi“, die Haushälterin Maria Hogl, schon dabei. Kennengelernt haben sich die beiden unmittelbar davor, in seiner kurzen Zeit als Seelsorger in Ravelsbach. Ihre Tante sei, erinnert sich Maria Hogls Nichte, Berta Söllner, „zuerst mit einem Wirt gegangen, für den hat sie Köchin gelernt. Der Wirt hat dann eine andere geheiratet, und das war eine so große Kränkung für meine Tante, dass sie beschlossen hat, sie heiratet nicht mehr.“ Genau davor ist Maria Hogl naturgemäß nirgendwo so sicher wie bei einem Pfarrer in zölibatären Zeiten. Wie eng das Verhältnis der beiden tatsächlich war, bleibt ihr Geheimnis und würde auch niemanden weiter interessieren, wäre da nicht eine heuchlerische Sexualmoral, die das Natürlichste der Welt zur Causa prima macht, an dem sich unser Seelenheil entscheidet. Fest steht: Das „Fräulein Mizzi“ wird ihrem Pfarrer bis zu seinem – frühen – Tod zur Seite sein.

Sein geistliches Amt in Unterretzbach tritt Pater Alberich mit unübersehbar weltlichen Aktivitäten an: Er beginnt, Stück für Stück die zur Pfarre gehörigen – und an ortsansässige Bauern verpachteten – Grundstücke zurückzuholen und selbst zu bewirtschaften. „Pfarrer und Bauer“ heißt folgerichtig sein Selbstbild. In Unterretzbach ist denn auch die Erinnerung an Pfarrer Berger weniger mit stiller Andacht als mit tatkräftigem Zupacken verbunden: „Der hat um sieben die Messe gehalten, um drei viertel acht konnte man rechnen, dass er schon mit dem Traktor fährt.“

Kein Wunder also, dass Hinweise agrarischer Natur ein Gutteil seiner pfarrchronikalen Aufzeichnungen bestimmen. Der andere Schwerpunkt liegt von allem Anfang an bei großer Politik – und wie sie sich im Lokalen niederschlägt. „Unsere Nazis erfrechten sich, die Pfarrhofmauer zu beklecksen“, notiert Pfarrer Berger im Sommer 1934. „Sie drangen in der Nacht in den Vorgarten ein, und in der Frühe prangte am Pfarrhof neben der Haustüre mit schwarzem Eisenlack: ,Geduld, wir kommen!‘“ Und ein Hakenkreuz dazu. Nachsatz: „Das ist umso weniger verständlich, als gerade Pater Marian Lackinger“ – Bergers Vorgänger als Pfarrer von Unterretzbach – „und sein Kooperator mit den Nazis ziemlich stark sympathisierten.“ Wie triftig diese beiläufige Beschuldigung ist, lässt sich nicht klären, mit Nazi-Sympathisiererei ist es jedenfalls unter Pfarrer Berger vorbei: „Wenn ich die Beschmierer des Pfarrhofs herausfinde, haue ich diesen Gaunern ein paar Ohrfeigen herunter.“

Unschwer vorzustellen, mit welchen Gefühlen Berger den Ereignissen des März 1938 begegnet. Wie seine dabei unübersehbare Begeisterung für den Austrofaschismus mit der „roten“ Unterwäsche seines Gemüts zusammengepasst haben mag, gehört wohl zu den unergründlichen Widersprüchen des allzu Menschlichen: „Am 11. März 1938 überraschte uns die Radionachricht, als unser viel geliebter Bundeskanzler Schuschnigg seinen Rücktritt kundgab. Hier in Unterretzbach übernahm Vinzenz Singer die provisorische Leitung der Gemeinde. Es muss festgestellt werden, dass als SA-Leute die größten Gauner und gerichtlich vorbestraften Diebe mit Armbinde und Gewehr Dienst machten und ,Heil Hitler‘ brüllten.“

Es ist diese enragierte Sprache, die Pfarrer Berger auch später in seiner Pfarrchronik nicht missen lässt, in Zeiten, da so viel Unverblümtheit ihm Gefängnisstrafen oder noch viel Schlimmeres eintragen konnte. Weiß er nicht, dass die Gestapo auch Pfarrchroniken liest? Oder ist es ihm einfach egal? Heinz Arnberger, im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes mit der Materie vertraut, kennt das Risiko, das für allzu offenherzige Pfarrer während des Nazi-Regimes bestand: „Manche haben deshalb zwei Chroniken geführt: eine für die Nazi-Behörden und eine echte.“ Andere wieder werden der Einfachheit halber gar nichts niedergeschrieben haben, was ihnen hätte gefährlich werden können. Pfarrer Berger tut weder dies noch jenes: Er schreibt, was und wie es ihm gefällt. Selbst durch drei Wochen „Schutzhaft“ im Landgericht Znaim – Berger wird vorgeworfen, die „Gestapoweisung betreffs des Christi Himmelfahrtstages“ nicht befolgt zu haben – lässt er sich nicht beeindrucken. Unbeirrbar rapportiert er, was vorfällt und wie sich die Versorgungslage immer mehr verdüstert.

Dazu passt ein in die Chronikseiten eingelegtes Flugblatt im Stile einer Todesanzeige, beredte Karikatur eines Lebens zwischen Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen: „In unvergesslichem Schmerz geben wir die traurige Nachricht, dass ganz plötzlich und unerwartet unsere liebe, gute Nährmutter, Frau Rosa Brotmarke, geborene Weizenmehl, verschieden ist. Mit knurrendem Magen werden wir ihrer gedenken. Die Asche wird im Familiengrabe beigesetzt, wo schon folgende Verwandte selig ruhen: Schmalz, Zigaretten, Wein, Mohnstrudel, Salami, Stelzen, Schlagobers und Rahm. Obenstehende Personen sind beim Anschluss gestorben und waren österreichische Staatsbürger.“

Je näher der Krieg seinem Ende kommt, desto genauer Pfarrer Bergers Chronik. Allein auf 1945 verwendet er knapp 60 dicht beschriebene Seiten. Schon Anfang des Jahres wird die Region rund um Unterretzbach zum Durchzugsgebiet unterschiedlichster Flüchtlingsströme. „Bei uns wurden viele Bauern aus Liegnitz, die vor den Russen geflüchtet waren, aufgenommen“, berichtet Berger und weitet die simple Nachricht wie so oft zum Genrebild. „Der protestantische Pfarrer kam in SS-Montur. Beim Kriegerdenkmal Heldenfeier, im Wirtshaussaal Gottesdienst. Kein Kruzifix, sondern großes Hitler-Bild.“

Während die Schlacht um Wien schon am 13. April geschlagen ist, haben 80 Kilometer weiter im Norden noch immer die Nazis und ihre Handlanger das Sagen. Erst mit der Kapitulation am 8. Mai endet auch in Unterretzbach der Krieg. Von Frieden allerdings ist vorerst keine Spur. Noch am Tag der Kapitulation, „zwischen zehn und elf Uhr vormittags“, schreibt Pfarrer Berger, „ging der Mob von Unterretzbach in das Lager der Arbeitsmaiden, um sich anzueignen, wessen man habhaft werden konnte – hauptsächlich Decken, Gläser oder Blechdosen mit Marmelade, Kakaopulver wurden gestohlen.“ Dann, am selben Tag, die erste Begegnung mit russischen Truppen: „Es kam ein Lieutenant, der keine Macht über seine Leute zu haben schien. Ein Untersergeant untersuchte zuerst das Zimmer meiner Haushälterin nach Waffen, dann das meine, ferner das Speisezimmer und die anderen Zimmer. Er und noch ein anderer Sergeant stahlen, was ihnen in die Hände fiel. Sehr traurig war diese Nacht für viele der Frauen und Mädchen. Sie wurden manchmal unter Waffendrohung vergewaltigt. Alte und junge. Es war keine Gewalt da, um der Soldateska einen Herrn zu zeigen. Ein russischer Offizier soll behauptet haben, es wird hier in Österreich bloß fünf Prozent von dem gemacht, was die deutschen Soldaten, besonders die SS, in der Ukraine getrieben haben.“

Kaum hat sich die Besatzung etabliert, bricht neue Wirrnis über das Land: „Über unser Grenzgebiet ergießt sich ein wahrer Strom von Flüchtlingen aus Znaim und Südmähren. Die Deutschen werden von den Čechen so behandelt, wie die Čechen und Juden von den Nazis. Hitler, Himmler und seine Kumpane haben es den Čechen eben vorgemacht.“ Und mitten drin in diesem Elend, das Tat und Täter, Rächer und Vergeltung willkürlich durcheinanderrührt, ein kleines Stück Normalisierung auf gut Österreichisch: Am 15. Mai konstituiert sich ein provisorischer Gemeinderat in Unterretzbach, mit christlich-sozialer Mehrheit, aber auch drei Vertretern der Sozialdemokratie. Einer davon: Pfarrer Karl Berger. Noch gibt es keinen Briefverkehr, kein Zug, schon gar keine Telefonleitung steht zur Verfügung, die ungeheuerliche Nachricht vom roten Pfarrer von Unterretzbach zu verbreiten. Doch Anfang September sind gröbste infrastrukturelle Mängel behoben, und die junge Republik findet zu sich selbst und zu jener parteipolitischen Verfasstheit, die sie bis heute prägt: „Der hochwürdige Herr Pater Berger, Pfarrer von Unterretzbach“, meldet die „Österreichische Volkspartei, Bezirksleitung Hollabrunn“, Seiner Eminenz, dem hochwürdigen Herrn Kardinal Erzbischof zu Wien, „soll nach Angaben unserer Gewährsmänner im politischen Leben seiner Pfarre eine große Rolle spielen, ja noch mehr“ – und jetzt kommt der wahre Grund der Hinterbringung -, „dieser genannte Pfarrer ist kein Angehöriger der Österreichischen Volkspartei, sondern Mitglied der Sozialistischen Partei Österreichs.“ Dass nebstbei Seine Eminenz „den Wunsch ausgesprochen hat, dass sich der hochwürdige Klerus aus dem politischen Leben zurückzuziehen hat“, ist da schon fast nicht mehr von Belang. Man spürt die schwarze Bezirksparteileitungsseele in jeder Zeile kochen, dass da einer der „Unsrigen“ bei diesen anderen zugange ist.

Das Schreiben des postnazistischen Blockwarts aus Hollabrunn kann gar nicht ohne Wirkung im Erzbischöflichen Palais bleiben. Zwar hat man hier in den vergangenen Jahren immer wieder vermittelnd eingegriffen in die zahllosen finanziellen Konflikte zwischen Pfarrer Berger und seinem Stift Lilienfeld (die Pfarrer Berger bis zu einem Prozess gegen das eigene Stift trieb), doch sich einer direkten Weisung des Erzbischofs zu widersetzen, und sei es auch in Unwissenheit, das ist mehr, als einer vom Zuschnitt Kardinal Innitzers hinnehmen will. Am 26. September 1945 richtet das Erzbischöfliche Ordinariat an den Abt des Stiftes Lilienfeld „das dringende Ersuchen“, Pfarrer Berger von seinem Posten in Unterretzbach abzuberufen. Der Abt wiederum bittet um „Fristverlängerung“, denn: „Bei dem derzeitigen Priestermangel wäre eine sofortige Neubesetzung der Pfarre Unterretzbach schwer möglich.“

Ein halbes Jahr Hin und Her folgen, dann ist der lästige Patron aus Unterretzbach abserviert und nach Josefsberg versetzt, „strafweise“, wie der hochwürdige Herr Abt besorgten ÖVP-Gemütern treuherzig versichert, schließlich habe „Josefsberg mit den wenigen Einwohnern nur mehr geringe pfarrseelsorgliche Bedeutung“. Und die Handvoll Seelen – so die subkutane Hoffnung – werde schon nicht zu großen Schaden nehmen durch diesen „schwer zu behandelnden Querulanten“.

Was die von Kardinal Innitzer höchstselbst entfernten Seiten 108 und 109 der Unterretzbacher Pfarrchronik betrifft: Die sind wohl auf immer verloren. Die letzten Zeilen der Seite 107 lassen Invektives ahnen: „Im Jahr 1942 habe ich mich an das Erzbischöfliche Ordinariat um Hilfe gewendet, da der Ökonomus des Stiftes Lilienfeld die Beistellung von Brettern für einen Brunnendeckel abgelehnt hat. Erfolg 0. Ich wollte mir . . .“ Je nun, er wollte so viel, der Pfarrer Berger. Zu viel vielleicht. Im Frühjahr 1952 ereilt ihn auf dem Josefsberg ein Schlaganfall, der ihn, noch keine 57 Jahre alt, in die Frühpension zwingt, im Dezember 1953 streckt ihn ein zweiter in dem gemeinsam mit seinem „Fräulein Mizzi“ bewohnten Haus in Ravelsbach endgültig nieder.

Und heute? Der Pfarrhof von Unterretzbach steht leer, seit ein letzter Pfarrer samt Teilen des Pfarrhofinventars bei Nacht und Nebel unbekannt verzogen ist. Im Pfarrhof auf dem Josefsberg ist nur mehr die letzte Pfarrersköchin verblieben und macht, fallweise assistiert von einer Freundin aus dem fernen Flensburg, wallfahrend Vorbeiziehende mit den wundersamen Wandmalereien ihres Heims bekannt. Der Priestermangel des Jahres 1945, der schiene jedem heute vermutlich eine Priesterflut. Wie es so weit kommen konnte, davon erzählt – ein Stück weit jedenfalls – auch die Geschichte des Pfarrers Berger, Fleischhauerssohn aus Wien.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 22. Mai 2010

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