Vom Serviettenbrechen: Die 33.000 Falten der Schlange

Warum das Glatte nicht unserer Existenz entspricht: über die Kunst des Serviettenbrechens, den Faltkünstler Joan Sallas und seine Ausstellung in Wien.


Wie viele Falten braucht eine Schlange? „33.000“, antwortet Joan Sallas, ohne lange überlegen zu müssen, und kneift weiter Furchen in feinstes Tuch; irgendwann in etlichen Stunden werden sie sich auf seinem Tisch zu Bergen und Tälern einer leinernen Gebirgslandschaft erheben. Ein paar Schritte weiter liegt das vor Tagen gefertigte Reptil, neun Meter lang, aus 16 Meter Stoff zurechtgeknickt: Schuppenfalten nennt sich passend die Technik, die aus glatter Webware die Haut des Kriechtiers schafft. Auch die trutzige Burg an der Wand gegenüber dankt Falten an Mauern, Türmen, Bergfried, Zinnen ihre Standhaftigkeit, und selbst ihre Kanone ist noch textil. Als „ein Vestung von unterschiedlichen Pollwerken zusammen gesetzt“ finden wir sie im 1665 veröffentlichten „Trincir Buch“ des Barockdichters Georg Philipp Harsdörffer abgebildet, der wiederum auf die italienisch abgefassten „Tre Trattati“ des aus Bayern gebürtigen Mattia Giegher zurückgriff, welcher seinerseits . . . und so weiter und so fort.

Wir sehen schon: Gebirgslandschaft, Burg und Riesenschlange verdanken ihre Entstehung nicht (oder nicht nur) einer privaten Schrulle, sondern tragen die Insignien einer Jahrhunderte zurückreichenden, jahrhundertelang praktizierten, gegenwärtig jedoch so gut wie vergessenen Handfertigkeit: der Kunst des Serviettenbrechens. Und wäre da nicht dieser Joan Sallas, ein Endvierziger aus Katalonien, wir würden uns bis heute ratlos über die dicken Folianten aus Renaissance und Barock beugen und nicht glauben können, dass, was da dargestellt, tatsächlich und wahrhaftig aus Stoff zu formen sei: Fasane und Schlachtschiffe, Löwen, Pfauen, ja ganze Tischbrunnen. Nichts davon hat sich im Original bis in unsere Tage erhalten, schließlich war das in oft monatelangen Mühen verfertigte Werk einzig für den Augenblick gedacht. Eine Vorstellung, die in einer Welt, der Vergänglichkeit nichts und Konservierung alles ist, irritieren muss.

„Es gibt Künste, die sind eben von sich aus vergänglich“, weiß Joan Sallas. „Ein Feuerwerk – das kann man nicht erhalten. Und eben auch das Serviettenbrechen. So eine Serviette, wie kunstvoll sie auch immer gefaltet sei, hat nur ein paar Augenblicke zu leben. Das ist die Essenz des Barock, die Erinnerung an die Endlichkeit. Für mich erzählt das mehr über unser Leben als die verzweifelten Versuche der Verewigung, die man durch Konservierungen aller Art heute anstrebt. Nein, wir sind nur ein paar Tage hier.“ Seltsam genug, dass gerade in einer Zeit, die Falten am liebsten endgültig aus ihrem Gesichtskreis tilgte, sei es mit gezücktem Bügeleisen, sei es mithilfe der fragwürdigen Segnungen einer nur so genannten Schönheitschirurgie, die faltige Kunst des Joan Sallas eine unerwartete Wiederbelebung erfährt: immer größer die Nachfrage nach seinen Kursen, immer dichter die Abfolge der Ausstellungen, die seinen Händen den eigentlichen Reiz verdanken.

Nebst der anstehenden Schau im Wiener Hofmobiliendepot ist er allein im heurigen Jahr an weiteren vier Museen präsent, von der Kunsthalle Mannheim bis zum New Yorker Metropolitan Museum. „Der Mensch scheint es nicht lang ohne Falten auszuhalten“, meint Sallas. „Die glatte Fläche entspricht eben nicht unserer Existenz. Wenn wir alt werden, falten wir uns. Die Blumen entfalten sich, die Berge falten sich. Die Kinder, wenn sie geboren sind, entfalten sich. Diese Entwicklung, die sich im Falten und Entfalten zeigt, gehört zu unserer Wirklichkeit, und das reproduzieren wir mit Papier oder mit Stoff.“

Kein Zweifel, die Falte treibt uns ins Sinnieren, da muss man kein Derrida sein. Und kein Foucault. Und kein Heidegger. Sie alle haben die Falte im je eigenen Sinn mit Bedeutung belegt, Gilles Deleuze hat ihr 1988 gar ein ganzes Buch gewidmet, „Die Falte“, in dem er sie, „ins Unendliche gehend“ und an der Philosophie des Gottfried Wilhelm Leibniz entlang, zum zentralen „Charakteristikum des Barock“ erhebt.

Ihre historischen Wurzeln allerdings hat die Kunst, in gestärktes Tuch Muster zu kneifen, schon wesentlich früher. Joan Sallas: „Die dazu nötige Technik war den Schneidern der Renaissance abgeschaut. In dieser Zeit waren komplexe Faltungen allgemein in Mode – in Norditalien waren die Schneider besonders intensiv damit beschäftigt.“ Und wer’s nicht glauben mag, der braucht nur die Ärmel der Mona Lisa einmal etwas genauer in Augenschein zu nehmen. „Spinapesce“ heißt die Technik, dem sie ihr kunstvolles Muster verdanken, zu Deutsch: „Fischgräte“, von Harsdörffer schon im Barock als „Schuppenfalte“ übertragen.

Von den Schneidern der Renaissance wurde noch eine andere Usance übernommen: das Falten nicht gleich an Stoff, sondern erst an Papier zu erlernen, denn, so Sallas: „Papier ist steifer als eine gestärkte Serviette, es erlaubt, eventuelle Fehler zu korrigieren. Nur die Leute, die gut mit Papier falten konnten, durften auch mit Servietten arbeiten. Das ist der Grund, warum in Europa die Serviettenfaltkunst und die Papierfaltkunst eng verwandt sind. Beide Künste haben sich gegenseitig befruchtet und beeinflusst.“

Mit den Schöpfungen des japanischen Origami habe all das jedenfalls nichts zu schaffen: „In Japan wurde nur Papier gefaltet, Stoff wurde anders behandelt. Die haben auch keine Servietten gehabt. Die hatten sie beim Essen auch gar nicht nötig – anders als wir in Europa, unsere Vorfahren haben ja wie Schweine gegessen, da brauchte man etwas, um die fettigen Hände abwischen zu können.“

Im Italien des 17. Jahrhundert sei die Faltkunst gar an Universitäten gelehrt worden, erzählt Sallas. Aber schon weit davor hätten Tranchierer und sogenannte „credenzieri“ an italienischen Höfen begonnen, Servietten und Tischtücher für Bankette künstlerisch zu gestalten: zu immer raffinierter aufgetürmten Tischdekorationen, Schaugerichte genannt, wie eben der neun Meter langen Schlange, die jetzt auf die Besucher des Wiener Hofmobiliendepots lauert. „Alles hatte seine Symbolik, alles hatte seine Bedeutung“, weiß Sallas. „Wenn man heute in Wien durch Hotels oder Restaurants geht, dann sieht man fast überall dieselben Servietten. Noch im 19. Jahrhundert haben deutsche und österreichische Kellner für jedes Hotel und jedes Restaurant eine eigene Serviettenfaltung erfunden. Auch der Wiener Hof kannte seine eigene Art der Serviette, die Kaiserservietten.“ Und die werden übrigens bis heute bei Staatsdiners von den Beschließerinnen der Bundesmobilienverwaltung nach streng geheimem Verfahren angefertigt. Doch jenseits solcher hochoffiziellen Gelegenheiten war es nach dem Ersten Weltkrieg – so Sallas – auch an der Donau „mit der Serviettenkunst vorbei“.

Sallas’ Hoffnung: „Vielleicht fangen nach dieser Ausstellung die Kellner in Wien wieder an, etwas selbst zu erfinden, über die fünf Servietten hinaus, die sie in der Hotelschule kennenlernen. Das wäre ein gutes Ergebnis.“ Eines, das seiner Kunst auch angemessen sei: „Das Ziel war ja von allem Anfang an nicht, über die Jahrhunderte immer Gleiches zu wiederholen, sondern auf der Basis der erlernten Techniken ständig Neues zu schaffen.“

Immerhin stünde jenen, die solches erlernen wollen, in Sallas ein kundiger Lehrmeister bereit – ein Vorzug, auf den Sallas selbst verzichten musste: Als er vor zehn Jahren begann, sich seiner eigentlichen Profession, der des Cartoonisten, ab- und der Faltkunst zuzuwenden, da war, was die europäische Seite der Angelegenheit betrifft, so gut wie niemand, der ihm hätte zur Seite stehen können. Und auch die in mühsamer Kleinarbeit auf Flohmärkten und in Antiquariaten zusammengesuchten historischen Bände halfen nicht wirklich weiter: „Da sind bestenfalls eine Handvoll grundsätzlicher Techniken erklärt, aber wie man damit all die Wunderdinge erzeugt, die nebstbei abgebildet sind, da musste ich selber draufkommen.“

Voraussetzung: gutes optisches Vorstellungsvermögen. Und eine akribische Liebe zum Detail, die Sallas selbst als „Obsession“ beschreibt: „Das heißt viele Stunden kämpfen, versuchen, versagen, zu einem Ergebnis kommen, das nicht zufriedenstellend ist, und wieder versuchen. Eine Tätigkeit wie die eines Kriminalisten. Nur ohne Mord. Man muss Intuition haben und vor allem fleißig sein. Manche Objekte habe ich bis heute nicht entschlüsselt. Ich kämpfe immer noch. Von nichts kommt nichts.“

Dieselbe Hartnäckigkeit war auch nötig, um taugliches Tuch für seine Serviettenkunst zu finden: Den richtigen Weber entdeckte Sallas schließlich an der polnisch-deutschen Grenze, in der Oberlausitz: „Es ist ja nicht so einfach: Zum einen ist mit der Faltkunst selbst auch das Wissen um die richtigen Gewebe dafür verloren gegangen. Zum anderen zeige ich ja Objekte aus mehreren Jahrhunderten, die für sich eigentlich wieder durchaus unterschiedliche Gewebe erfordern. Wir mussten also einen Kompromiss quer durch die Zeiten finden, und ich denke, das ist uns gelungen.“

Drei Monate werkte Sallas allein in Wien an der Vorbereitung seiner Schau; 40 Schaugerichte und 150 Servietten werden zu sehen sein: „Gefaltete Servietten zu lagern, zu transportieren, das hat eine Wirkung auf die Frische – man kann das kaum wieder zeigen. Auch wenn man alles sorgfältig in Kisten mit Papier packt, entstehen Dellen und Falten, die nicht dazugehören. Das ist der Grund, warum das meiste an Ort und Stelle neu gefaltet werden muss.“

Entstehen und vergehen: Auch unter den Bedingungen eines heutigen Museumsbetriebs bleibt die Kunst des Serviettenbrechens, was sie immer war: Zeugnis der Vergänglichkeit. Der Tod wird nur ein wenig aufgeschoben, nach vier, fünf Ausstellungsmonaten ist es mit Burg, Schlange, Gebirgslandschaft vorbei. Und Joan Sallas kann an anderem Ort wieder beginnen, die Welt in Falten zu legen. All unseren Glattbüglern zum Trotz.


Wolfgang Freitag in: „Die Presse“, „Spectrum“, 4. September 2010

Weitere Artikel