Ceský Krumlov: Vom Glück im Böhmerwaldnebel

Als „Tote Stadt“ hat Egon Schiele das pittoreske Örtchen am obersten Lauf der Moldau verewigt. Heute ist Ceský Krumlov manchen schon fast zu lebendig. Eine Empfehlung für die Nachsaison.

 

Die tote Stadt: So renommiert kann man gar nicht sein, dass man sich solche Nachred gern gefallen ließe. In Ceský Krumlov ist das anders: Hier hat man dem Urheber dieses vernichtenden Verdikts sogar ein ganzes Kunstzentrum gewidmet. Und jeder Tourismusprospekt, jede Website, jeder Stadtführer trägt den Namen jenes Besuchers geradezu stolz vor sich her, der einst dem pittoresken Örtchen am obersten Lauf der Moldau einen ganzen Bilderzyklus lang beschied, irgendwann vor 1910 verstorben zu sein: Egon Schiele.

Freilich: Schieles „Tote Stadt I“ und „Tote Stadt II“ und „Tote Stadt III“ ff. trugen den Namen der Stätte ihrer Inspiration – allerdings erst Jahrzehnte nach dem frühen Tod ihres Schöpfers – bis in die höchsten Höhen internationaler Kunstwertschätzung. Und im Übrigen kann das Ceský Krumlov von heute ziemlich entspannt auf das Krumau Schieles, auf das Krumau der beginnenden 1910er-Jahre zurückblicken: Gewiss, ganze Häuserzeilen haben sich erhalten, als sei die Zeit stehen geblieben, lassen sich mit Schieles Gemälden ohne weitere Interpretationsumstände in Deckung bringen, aber dazwischen, in den Sträßchen, in den Gässchen, auf den Plätzchen, begibt sich heute sehr viel mehr als jene Menschenleere, die ihnen auf ihren Abbildern von damals so eindrücklich eignet.

Im Gegenteil: Mittlerweile hört man schon von Besuchern raunen, denen das Gewurl zu Zeiten der Hochsaison, will sagen zwischen Mai und Oktober, zu viel wird. Wer sein Krumauer Glück in stiller Beschaulichkeit genießen will, dem seien deshalb beispielsweise die Tage wabernder Böhmerwaldnebel empfohlen, in denen das gewaltige Krumauer Schloss, das zweitgrößte des Landes nach dem Prager Hradschin, noch ein bisschen mysteriöser als bei prallem Sonnenschein über der Kleinstadt hockt, als gelte es, so viel historisch geschlossene Pracht vor möglicher Unbill zu bewahren.

Woran man schon erkennen mag, dass das „Egon Schiele Art Centrum“ mit seinen Wechselausstellungen und einer kleinen, anschaulichen Dokumentation zu Leben und Werk seines Namensgebers nur eine von vielen Stationen ist, die Jahr für Jahr Hunderttausende Touristen hierher, ins südlichste Südböhmen, führen. Und was sie hier suchen, hat auch nicht mehr allzu viel mit dem gemein, was Schiele hier, in der Geburtsstadt seiner Mutter, zumindest für einige wenige Monate fand: eine Zufluchtsstätte vor den Gemeinheiten der Großstadt.

Unsereiner, gut 100 Jahre später, will sich zuvörderst durch ein Stadtbild treiben lassen, das ein Bild von einer Stadt entwirft: ein Bild aus längst vergangener Zeit. Wir wandeln über mürrisches Kopfsteinpflaster, links und rechts von uns Gemäuer von Gotik bis Barock, das doch alterslos auf uns gekommen scheint: die Falten weggespachtelt, der Teint strahlender denn je, ein Meisterwerk stadtkosmetischer Chirurgie. So viel frisch getünchte Geschichtlichkeit en gros und en détail, zusammengedrängt in einer engen Moldauschlinge – da ist man schon froh, wenn da und dort noch ein Hauch Renovierungsbedürftigkeit von jenen Jahrzehnten kündet, die Ceský Krumlov im Off öffentlicher Wahrnehmung gefristet hat: im Off eines Regimes, das hier, wo der Systemfeind nur wenige Kilometer weiter sein kapitalistisches Unwesen trieb, nichts weiter als Stillstand zuließ.

Bis heute erinnern sich Einheimische an Wanderungen auf den gut 1000 Meter hohen Klet‘, knapp nördlich ihrer damals zerbröselnden Heimatstadt, erinnern sich an sehnsuchtsvolle Blicke in den Süden, über den sonst so unüberwindlichen Eisernen Vorhang hinweg Richtung Linz, erinnern sich an eine Aussicht, die an schönen Tagen bis zu den gut 150 Kilometer entfernten Alpen reichte. Und wer’s nicht glauben mag: Ein wenig außerhalb des Stadtkerns, im Fotoatelier Seidel, da ist er dokumentiert, der Alpenblick vom Klet‘, an einer Wand mit unzähligen anderen Impressionen, die Vater und Sohn Seidel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammengetragen haben.

Dort findet sich nebstbei das komplette Inventar eines Fotoateliers der Jahrhundertwende, samt Dunkelkammer und Plattenkamera, und, widergespiegelt im Schicksal des Sohnes Frantisek, die für uns Nachgeborene niemals fassbare Gnadenlosigkeit vergangener Zeitläufte: 1908 geboren, wurde er erst von den Nazis, nach Kriegsende von den Kommunisten verfolgt, ein Gutteil der fotografischen Bestände verschwand auf Nimmerwiedersehen in CSSR-Archiven, die Verlobte, eine böhmische Deutsche, wurde vertrieben. Nur wenige Jahre genügten, und Frantisek war ein Fremder im eigenen Land. Ein Fremder, der sein Fotoatelier bis zu seinem Tod, 1997, nicht mehr betrat. Wenn wir jetzt staunend in dieses Atelier schauen, das vor uns steht, als habe der letzte Kunde von ehedem eben erst das Haus verlassen, wenn wir über den ehrwürdigen Marktplatz schreiten oder oben im Schloss bewundernd in die barocke Maschinerie des Schlosstheaters blicken, die sich samt Kulissen und Kostümen erhalten hat, dann sollten wir nicht vergessen, dass es kaum je die erfreulichsten Kräfte waren, die solche wundersame Herrlichkeit über Jahrzehnte und Jahrhunderte für unsere Zeit bewahrten: vielmehr wirtschaftlicher und sozialer Niedergang, nicht selten menschenverachtende Politik.

Der Zauber der Vergangenheit, dem wir Wohlbestallten fassungslos erliegen dürfen, ist nur allzu oft mit dem Elend von Generationen erkauft. In Ceský Krumlov und andernorts.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 12. November 2011

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