Titanic: Nur der Mythos geht nicht unter

Vor 100 Jahren sank die Titanic. Und noch immer tauchen aus 3800 Meter Tiefe neue Mythen um den Luxusliner auf. Nachrichten von der unsinkbarsten Sinkbaren der Welt.

 

Man hätte es ja wissen können. Titan, das hört sich zwar titanisch an, aber wie war das doch gleich in der Mythenwelt der alten Griechen? Da werden die Titanen letztlich in den Tartaros gestürzt, in die unterste Unterwelt, noch hinter dem Hades. Die Herren der White Star Line hatten offenbar nur Glück, aber nicht Ende des antiken Göttergeschlechts im Kopf, als sie auf die Idee verfielen, den zweiten Dampfer ihrer neuen Schiffsklasse ausgerechnet Titanic zu nennen. „Titan“ nach klassischem Vorbild und „ic“ gleichsam als Signet der Reederei aus Liverpool: nach Oceanic, Atlantic, Baltic und vielen Ic-sen mehr jetzt eben erst Olympic, dann Titanic als Muster einer neuen Generation von Transatlantiklinern, die in der Gigantic ihren dritten, kühnsten Spross hätte finden sollen. Noch so ein unbedarfter Rückgriff ins Mythengut, schließlich hatten die Giganten, mehrheitlich von Herakles dahingemetzelt, zu schlechter Letzt auch nicht viel zu lachen. Die Gigantic lief allerdings, drei Jahre nach dem Titanic-Desaster, als bescheidene Britannic vom Stapel: Bei White Star hatte man offenbar vorderhand genug von all der Griecherei.

Hat nichts genutzt. Auch als Britannic war dem Kolossalkahn nur eine kurze Existenz auf, eine sehr viel längere unter Wasser beschieden: Zum Lazarettschiff umfunktioniert, lief die Britannic 1916 in eine deutsche Mine und versank in der Ägäis. Erstaunlich schnell, in 55 Minuten. Viel schneller als die im Untergang auch schon bemerkenswert schneidige Schwester, die im eisigen Nordatlantik allerdings 105 Minuten länger gebraucht hatte, um auf (fast) Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Und bedenken wir, dass der Ältesten der drei, der Olympic, nur wenige Monate nach ihrer Indienststellung, 1911, eine schwere Havarie acht Wochen in der Werft bescherte – ein britischer Kreuzer krachte nächst Southampton in ihr Heck –, dann können wir bereits ermessen: Ein Übermaß Fortüne war es nicht, an dem die White Star Line in jenen Tagen litt.

Es ist diese Havarie, an die sich bis heute die verwegenste Verschwörungstheorie in Sachen Titanic knüpft: jene, die besagt, White Star habe im April 1912 nicht die nigelnagelneue Titanic zur Jungfernfahrt über den Atlantik geschickt, sondern eine zur Titanic umgepinselte Olympic, welchselbige man, marod, wie sie nun einmal war, problemlos zwecks Versicherungsbetrugs versenken konnte. Gerhard Wisnewski, in der Offenbarung allerwahrster Hintergründe erprobt von der Mondlandung bis zu 9/11, tischt uns den alten Eintopf, aufgepeppt mit Konspirationszuwaage, jetzt wieder einmal auf („Das Titanic-Attentat“): Gemeinsam mit dem Schiff habe man nicht zufällig, sondern gezielt namhafte Teile des US-Geldadels heimtückisch entsorgt. Und überhaupt, was soll denn die Geschichte mit diesem läppischen Eisberg – wo Gerhard Wisnewski draufsteht, da müssen schon handfeste Explosionen drin sein, um gut 45.000 Bruttoregistertonnen unter den Meeresspiegel zu bugsieren.

Je nun, wer viel Tagesfreizeit hat, kann sich auch mit solchem vergnügen. Wer sich jedoch ernsthaft in konkreter Sache informieren will, ist gut beraten, anderweitig zuzugreifen. Etwa bei Linda Maria Koldaus Band „Titanic“: „In Wirklichkeit“, hält sie gleich zu Beginn fest, „war die Titanic überhaupt keine Sensation – bis sie im Atlantik versank.“ Denn: „Das öffentliche Interesse an der neuen Luxusklasse war auf das erste Schiff gerichtet, die Olympic. Die Jungfernfahrt der Titanic war fast schon Routine.“

Mit angemessener Beharrlichkeit rückt Koldau auch auf den weiteren knapp 300 Seiten die Titanic-Dinge zurecht. Und zurechtzurücken gibt es gerade genug: Bis hinein in seriöse Nachschlagewerke hält sich seit 100 Jahren das, was die öffentliche Erzählung schon Stunden nach der „entsetzlichen Katastrophe“, der „furchtbaren Katastrophe“, der „größten Schiffskatastrophe aller Zeiten“ (so das Staccato Wiener Schlagzeilen Mitte April 1912) zu tradieren begann, unbeschadet der mittlerweile angehäuften anderweitigen Einsichten. Während das voreilige „Alle Passagiere gerettet!“ alsbald von den Fakten der Todeslisten hinweggefegt war, hielt sich sonst das im ersten Furor Sodahingemeldete und Sodahingeschriebene, als wäre es in Stein gemeißelt. Warum? Vielleicht deshalb, weil es so entsetzlich, so furchtbar, so katastrophal passend schien. Die Mär vom Wettstreit um das Blaue Band. Die Mär von den unermesslichen Reichtümern, die mit der Titanic untergegangen seien. Die Mär von dem riesig klaffenden Riss, den der Eisberg in die Flanke des Schiffs geschunden habe. Sie dominieren nach wie vor den Titanic-Diskurs – wider alles bessere Wissen.

Das meiste davon ist rasch aufzuklären. Das Blaue Band zum Beispiel, jene imaginäre Auszeichnung für die Nordatlantiküberfahrt in kürzester Zeit, lag für die Dampfer der Olympic-Klasse von vornherein außer Reichweite. 26 Knoten Durchschnittsgeschwindigkeit, also rund 48 Stundenkilometer, hieß das Maß, das die Schnellsten jener Tage, Lusitania und Mauretania, Dampfer der mit White Star konkurrierenden Cunard Line, 1907 vorgelegt hatten. Ein Wert, den zu übertreffen sich White Star gar nicht erst bemühte: „Man war zu der Erkenntnis gelangt, dass selbst mit der neuesten Technologie keine deutlich höhere Geschwindigkeit zu erzielen war“, erläutern Harro Hess und Manfred Hessel („Die Titanic von A bis Z“). „So beschloss man, drei Dampfer zu bauen, die jeweils um etwa die Hälfte größer als die Cunard-Neubauten sein sollten und damit eine wesentlich höhere Platzkapazität anbieten konnten.“ Nie gesehenes Fassungsvermögen, kombiniert mit nie gesehenem Komfort für die betuchteren Reisenden, lautete das Konzept, mit dem Cunard übertrumpft werden sollte.

Dass sich die „Diamanten und Edelsteine im Gesamtwerte von über 100 Millionen Kronen“, die man hiesiger Presse zufolge auf der Titanic vermutete, entweder nie dortselbst waren oder – weniger wahrscheinlich – sich im Lauf der Jahrzehnte in Nordatlantikwasser aufgelöst haben, ist spätestens seit 1987 zu vermuten: Da förderte die Öffnung eines Titanic-Tresors, weltweit live übertragen, enttäuschenderweise vor allem durchweichte Dollarnoten zutage.

Der Riss an der Titanic wiederum, der in der zeitgenössischen Überlieferung alsbald zum „gewaltigen Loch“ wuchs, geschlagen von einem „50 bis 100 Fuß“ hohen Eisberg, ist mittlerweile deutlich geschrumpft. „Der Rumpf war an mehreren Stellen eingedrückt, Platten waren geborsten, die Nieten abgesprungen“, befand der Entdecker des Wracks, Robert Ballard, nach einer seiner Tauchfahrten 1986. Heute weiß man: Es gibt keinen großen Riss, nur einzelne Spalten, die der Eisberg an den Nähten zwischen die Stahlplatten des Rumpfs gedrückt hat. Metin Tolan, Physikprofessor an der Technischen Universität Dortmund, hat übrigens nachgerechnet, wie viel es braucht, ein Schiff wie die Titanic in der bekannten Geschwindigkeit zum Absaufen zu bringen („Titanic – Mit Physik in den Untergang“), und kommt auf eine Gesamtleckfläche von kaum mehr als einem Quadratmeter.

Mag sein, aber wie war das dann mit der angeblichen Unsinkbarkeit? Die war bloß Fachterminologie, also nicht so wirklich ernst gemeint: „Die Unsinkbarkeit war eine technische Größe“, erläutern Harro Hess und Manfred Hessel, eine Größe, der nebst anderen Schiffen ihrer Zeit eben auch die der Olympic-Klasse gerecht wurden. Voraussetzung waren unter anderem „die Schotten, die das Schiff in 16 wasserdichte Abteilungen unterteilten“. Unsinkbar bedeutete schlicht, „dass zwei nebeneinanderliegende Abteilungen geflutet werden konnten, ohne dass das Schiff gesunken wäre“. Nicht mehr und nicht weniger. Blöd nur, dass sich Herrn Tolans Leckquadratmeter zitzerlweise über eine ziemlich lange Rumpfstrecke ausbreitete. Ergebnis: Sechs geflutete Abteilungen – das war in jenen Tagen für das unsinkbarste Schiff nicht auszuhalten (und wäre es übrigens auch heute nicht, der Costa Concordia genügten vergangenen Jänner fünf geflutete für den vorläufigen Ruhestand auf einem Riff).

Wie viele Menschen an jenem 15. April des Jahres 1912 in den eisigen Fluten des Nordatlantiks zu Tode kamen, wissen wir noch immer nicht und werden es niemals wissen: Differenzen in den Passagierlisten lassen keine genaue Feststellung zu. Um die 1500 jedenfalls müssen es gewesen sein, weit überwiegend arme Schlucker der dritten Klasse und der Besatzung, aber auch exquisite nordamerikanische Multimillionarität wie Benjamin Guggenheim oder John Jacob Astor. Dass diesen wie jenen selbst mit viel mehr Rettungsbooten nicht zu helfen gewesen wäre, zählt zu den kaum beachteten Titanic-Tatsachen: Nicht einmal die – viel zu wenigen – vorhandenen hatte man vor dem Untergang vollzählig zu Wasser bringen können.

Das Menetekel, zu dem die Nachwelt schleunig die „entsetzliche Katastrophe“, die „furchtbare Katastrophe“, die „größte Schiffskatastrophe aller Zeiten“ aufplusterte, war ebenso schleunig wieder kein Menetekel mehr. Die Grenzen, die man der Hybris des Technikzeitalters in nordatlantischer Nacht gesetzt meinte, öffneten ihre Balken, noch ehe die Titanic-Trümmer auf den Meeresboden schlugen. 53.000 Tonnen Schiff zerflossen in unseren Köpfen zu Mythen und Ondits, deren materielles Gegenstück bis heute vor Neufundland gleichermaßen Gramm für Gramm in Nichts zerfließt. Dass sein Rost einer eigenen Bakterienart, Halomonas titanicae, Heimstatt und Nahrung bietet, zählt noch zum Tröstlichsten, was es in Titanic-Dingen zu berichten gilt. Von wegen Zahn der Zeit: Die Zeit hat viele Zähne.

Wir hier über dem Wasser basteln uns eine Papp-Titanic aus dem Ausschneidebogen des Taschen Verlags, werfen unsere Eiswürfel-Titanic ins Cocktailglas, und demnächst dürfen wir endlich in 3D bewundern, wie Leonardo DiCaprio auf James Camerons Kulissen-Titanic seinen „König der Welt“ macht. Die Wirklichkeit entschwindet, der Schein triumphiert. Vom allseits beschworenen „Fingerzeig Gottes“ blieb das, was er im Grunde schon in der ersten Stunde war: nur Pose.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 31. März 2012

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