1938: Niemals nie nicht wieder

1938, die Erinnerung, die Wachhalter, die Wirklichkeit: Nachrichten aus der Heimat.

 

So vergangenheitsbewältigt war Österreich noch nie. Welch bewegender Wortmeldungswettstreit brach in den vergangenen „Anschluss“-Gedenktagen aus zwischen Aus-der-Geschichte-Lernern und Die-Erinnerung-Wachhaltern, zwischen Historische-Verantwortung-Übernehmern und Schlüsse-für-die-Gegenwart-Ziehern! Wo manche einst das Land der Verdränger wähnten, drängt sich jetzt alles, in Täterbekenntnissen der Vordrängendste unter allen Vordrängern zu sein. Und selbst in einer Klientel, die vornehmeren Gazetten als „rechter Rand“ gilt, presst sich fallweise zwischen dünnen Lippen eine Art pflichtschuldige Empörung hervor – zumindest solange Mikrofone in der Nähe sind.

Ja, der Nationalsozialismus, der war eine „schreckliche Zeit“, eine „Katastrophe“ gar, so weit sind wir uns 75 Jahre nach den Märztagen von 1938 über (fast) alle parteipolitischen Grenzen hinweg einig – und dass seinesgleichen niemals nicht wieder passieren darf. Die hiesige Akademie der Wissenschaften stellt sich, nur ein Dreivierteljahrhundert danach, ihren „Verstrickungen in das NS-System“. Und sie tut das – Respekt! – sogar „schonungslos“. Und weil ja auch heimische Kunst und Kultur jener Tage nicht durchgängig von Widerstandskämpfern durchsetzt waren, tragen die Wiener Philharmoniker schon jetzt das Ihre bei, die „dunklen Jahre“ philharmonisch aufzuhellen.

Zur ziemlich gleichen Zeit begibt sich in einem rot-weiß-roten Städtchen beiläufig Folgendes. Dort hat man aus eigner Mitte akademischen Nachwuchs hervorgebracht, den es drängt, die jüngst erworbenen Doktorehren publizistisch zu verwerten: Die Dissertation soll als Buch breiteren Interessentenschichten zugänglich werden. Ein Verlag ist rasch gefunden, doch es fehlt am Geld; die Kosten, immerhin einige Tausend Euro, übersteigen deutlich das Einkommen, das man als junger Geisteswissenschaftler erwarten darf. So wendet sich das Dr.-phil.-Gemeindekind an die Gemeindeväter im untertänigen Vertrauen, von dort finanzielle Unterstützung erhoffen zu dürfen.

Und in der Tat, das darf es auch. Irgendwie. Wenig später hält es ein Schreiben des Bürgermeisters in Händen: Der Gemeinderat habe „einstimmig beschlossen, einen Anerkennungsbeitrag zu gewähren“. Der fällt zwar mit knapp einem Fünfzigstel des benötigten Betrags eher dürftig aus, aber vielleicht hat man – sagen wir – aus der Gemeindekassa gerade die letzte Rate für das jüngst eröffnete Hallenbad, das dritte im Umkreis von fünf Kilometern, zu bedienen, oder es steht beispielsweise die Honorierung des 32. Skilifts auf den allseits skibeliebten Schnatterkogel aus. Gleichviel: Besser als gar nichts ist dieses Fünfzigstel allemal.

Doch dann kommt’s: Bedingung der Gewährung sei es, so der Bürgermeister weiter, „dass die Stadtgemeinde als Subventionsgeber nicht erwähnt wird“.

Über so viel Zurückhaltung kann man ins Grübeln geraten. Wollen die Gemeindeväter, bescheiden, wie Gemeindeväter nun einmal sind, für eine so selbstverständliche Anerkennungsgeste keine Gegenleistung fordern? Oder schämen sie sich, nicht spendabler gewesen zu sein?

Die Unterstellung freilich, das gemeinderätliche Verlangen nach Diskretion finde sich womöglich im Gegenstand der Dissertation, dem Holocaust, begründet, kann getrost zurückgewiesen werden: Die Tage, in denen über die Zeit des Nationalsozialismus hierzulande, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand geredet wurde, sind vorbei. Denn Österreich, wir wissen es, ist so vergangenheitsbewältigt wie noch nie.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 16. März 2013

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