Architektur für alle: Die Mauern und das Leben

Der Architekt: ein einsamer Künstler, der mit großer Genie gebärde wahnwitzig übersteigerte Ideen aufs Papier wirft? Mein Jahr als Bauherr und andere archi tek tonische Kleinigkeiten: aus den Erfahrungen eines „Spectrum“-Redakteurs.

Seit ein paar Wochen liegt er vor mir auf dem Schreibtisch: der dicke Pappschuber, zwei Bände fassend, mit „100 zeitgenössischen Architekten“. Eigentlich und vor allem: mit ihren Architekturen. Und es sind selbstredend nicht irgendwelche Architekten und nicht irgendwelche Architekturen, die Philip Jodidio, Spezialist in einschlägigen Kompendien, da versammelt hat. Es sei ihm um jene getan gewesen, „die in vorderster Reihe das Geschehen in der Architektur beeinflussen“, nicht um irgendwelche architektonischen Hinterbänkler.

Dass der Standard dieser „,hehren‘ Beispiele“ im architektonisch Allgemeinen „nicht erreicht“ werde, davon ist Jodidio überzeugt. Wer dafür verantwortlich zu machen ist? Am wenigsten die Architekten: „Der Baugrund, das Budget, der Bauherr – alle diese Faktoren können unter Umständen genauso viel oder sogar mehr Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg eines Gebäudes haben als der Architekt und die Architektin selbst.“ Und überhaupt: „Sollte am Ende der Bauzeit irgendein Rest von Stil übrig bleiben, so wird dieser in der Regel mit den falschen Möbeln oder Topfpflanzen vom Bauherrn beseitigt.“ Haben wir uns doch gleich gedacht: Die böse Wirklichkeit macht noch die schönste Architektur kaputt. Kein Wunder, dass diese böse Wirklichkeit auch möglichst ausgespart bleibt, soll Architektur ins Bild gerückt werden. Architekturfotografie bedeutet nicht nur, aber auch in Jodidios Sammlung: eine Welt ohne Menschen. Geisterstädte, Geisterhäuser, Geisterlandschaften. Dass Architektur Form ist, no na. Aber nur Form? Form, die sich womöglich ihrer Funktion und ihres Funktionierens schämt?

20 Jahre lang verwalte ich mittlerweile schon die Architekturseite des „Spectrums“, und ich wüsste nicht einmal annähernd die Zahl der Architekturbände zu nennen, die in dieser Zeit durch meine Hände gegangen sind. Aber die allermeisten zeigten, was sie zeigen wollten, genau so, wie es Jodidios Bände tun: leere Museen, leere Plätze, leere Straßen, leere Gänge, leere Zimmer und selbstredend nirgendwo auch nur die Andeutung einer Nutzung all der schönen Dinge, die sich da eine oder einer erdacht hat. Als habe man die Menschheit samt und sonders weggebeamt, und nur die Kamera sei zurückgeblieben, Architektur, vollkommen unbefleckt von jedwedem Gebrauch, in idealem Licht zu dokumentieren. Dass unter diesen Bänden große Werke der Architekturfotografie waren, Zeugnisse einer eigenständigen, hochartifiziellen Kunst: keine Frage. Aber nicht jeder Architekturfotograf ist – sagen wir – ein Julius Shulman, und nicht jeder Bau braucht ein Kunstwerk, um optisch angemessen vorgestellt zu werden.

Zugegeben: In den vergangenen 20 Jahren habe ich zwar gut 1000 Architekturkritiken für das „Spectrum“ redaktionell betreut, aber ich habe keine einzige geschrieben. Aus gutem Grund: Ein Stab exzellenter freier Mitarbeiter voller Kennerschaft hat es mir erspart, auf einem Feld zu dilettieren, auf dem es mir an fachlicher Expertise mangelt. Nicht dass es mir in dem einen oder anderen Fall an einer entsprechenden Meinung gefehlt hätte, aber ich habe immer versucht, der unter meinesgleichen, also unter Journalisten, weit verbreiteten Idee, jede halbwegs artikulierte Meinung sei doch gewiss wert, gedruckt zu werden, nicht widerstandslos nachzugeben. Ich bin kein Architekturkritiker, und ich werde nie einer sein.

Schon lange vor diesen 20 Jahren hat mich allerdings genau das beschäftigt, was nur allzu oft nicht nur in der Architekturfotografie, auch im architektonischen Fachdiskurs ausgeblendet bleibt: die Wechselwirkung zwischen Architektur und jenen, für die sie doch eigentlich bestimmt ist. Architektur wird uns präsentiert, als würde man uns ein Musikstück nur als Partitur vorhalten. Die Interpretation, die diese Partitur erst zum Klingen bringt, scheint nicht weiter von Belang, schon gar nicht ihre Interpreten, also wir alle, im Gegenteil: Beides wird offenkundig – und keineswegs nur bei Jodidio – als störend wahrgenommen. Jedenfalls solange es sich einer unmittelbaren Steuerung entzieht: Auffallend ist, dass im Unterschied zu den menschenleeren Architekturfotografien die Visualisierungen künftiger Projekte von – virtueller – Bevölkerung nur so wimmeln. Weil man sie praktischerweise genau dorthin zu platzieren vermag, wo’s gerade gefällig ist? Architektur als Weltinszenierung, der Architekt ihr allmächtiger Regisseur, der ein Ensemble nur da zulässt, wo Eigenmächtigkeiten von vornherein ausgeschlossen sind: Ist es das, was Architekten wollen?

Das vergangene Jahr machte mich zum Bauherrn. Die Bauaufgabe, die es zu lösen galt, war von den Dimensionen klein, was die äußeren Zwänge betrifft hingegen quasi riesengroß: Thema war der Um- und Ausbau eines Reihenhauses aus den Zwanzigerjahren, eines der Vorzeigestücke der Wiener Siedlerbewegung. Die äußeren Zwänge sind rasch aufgezählt, aber nicht ganz so rasch berücksichtigt. Zu bedenken waren: die einschlägigen Bauvorschriften, die sowieso, weiters eine Art Ensembleschutz, der die Gestaltungsmöglichkeiten straßenseitig limitiert, dann noch ein strenger formaler Katalog, der von der Siedlungsgenossenschaft, der das Haus ja eigentlich gehört, vorgegeben wird – und schließlich und vor allem die beschränkten finanziellen Mittel des Bauherrn, so ein Redakteursgehalt ist schließlich kein Alles-ist-möglich-Treffer in der Lotterie.

Insbesondere letztgenannter Punkt treibt Bauherren eher selten in die Arme der Architektenschaft, steht die Befassung dieser Zunft doch im Geruch, vor allem eines, nämlich kostspielig, zu sein. Von jenen Ängsten ganz zu schweigen, die Otto und Ottilie Normalverbraucher schon a priori daran hindern, die Schwelle eines Architekturbüros zu überschreiten. Entsprechende Hinweise, ich hätte mich mit meinem Umbauwunsch einer Architektin anvertraut, schien Nachbarn und andere Mitsiedler (und übrigens auch die Mitarbeiter der zuständigen Genossenschaft) immer ein Stück von mir abrücken zu lassen: als wolle man diesem offenbar vollkommen Wahnsinnigen denn doch nicht zu  nahe kommen. Und regelmäßig fand ich mich mit der Frage konfrontiert, ob die  Beschäftigung eines Architekten nicht  maßlos teuer sei. Im Übrigen werden jedem Umbauwerber seitens der Genossenschaft die Dienste eines einschlägig erfahrenen Baumeisters angepriesen, der dann halt ohne sonderliche Ambition abliefert, was er halt abliefern kann.

Ergebnis: In der ganzen Siedlung, und es ist mit mehr als 1000 Wohneinheiten die größte in Wien, wird man die architektonische Fachmitwirkung an den zahlreichen Um- und Ausbauten der jüngeren Vergangenheit mutmaßlich an den Fingern einer Hand abzählen können. Mir jedenfalls ist bis dato nur ein einziger weiterer Fall bekannt geworden.

Und möglicherweise hätte nicht einmal ich, wiewohl mittlerweile, siehe oben, seit Jahrzehnten in die Thematik intim involviert, den Gang in ein Architekturbüro gewagt, wäre da nicht jene Begegnung vor Jahren gewesen, die alles Folgende erst möglich gemacht hat. Eine junge Architektin bot sich an, Beiträge für die Architekturseite des „Spectrums“ zu schreiben, und anlässlich eines Vorstellungsgesprächs zeigte sie mir eine Mappe mit ihren bisher umgesetzten Projekten. Da ging es immer wieder um die vielleicht aufregendste aller Künste: aus nichts mit Kreativität und klug disponierten Mitteln so viel zu machen, als hätte man über alles verfügt. Und damals, es ist vielleicht 15 Jahre her, war ich mir schon sicher: Würde ich jemals in die Lage kommen, das Siedlungshaus, es ist mein Elternhaus, für meine Zwecke adaptieren zu wollen, ich würde mich an diese Architektin wenden.

Vor drei Jahren war es dann so weit: Ich beauftragte die Architektin mit einem ersten Entwurf, vor einem Jahr haben die Bauarbeiten begonnen, seit Ende September wohne ich mit Frau und Kind in dem Haus, und dass wir dort so zufrieden sind, hat einen seiner wesentlichsten Gründe darin, dass das gesamte Vorhaben vom ersten Tag an von wechselseitigem Austausch und von der gemeinsamen Suche nach gemeinsamen Lösungen geprägt war. Natürlich gab es da auch Auseinandersetzungen, natürlich gab es in dem einen oder anderen Detail unterschiedliche Positionen, natürlich hatten wir als Bauherren unsere Bedürfnisse und unsere Ressourcen, und die Architektin hatte ihre Ideen, ihre Vorstellungen und, ja, auch ihre ästhetische Handschrift, aber nichts davon war Selbstzweck, alles war dem gemeinsamen Ziel untergeordnet, unter schwierigen Bedingungen ein Ergebnis zu erreichen, wie es selbst unter viel besseren Bedingungen nicht besser hätte zustande kommen können.

Das verlangte von beiden Seiten, den Bauherren wie der Architektin, viel Zuhören, die Bereitschaft, Kompromisse zu schließen, aber auch das Deklarieren von Grenzen, die nicht überschritten werden wollen. Und wenn ich mir heute mein Siedlungshaus anschaue, dann ist es nicht einfach das Ergebnis eines Planungsakts und seiner Umsetzung, dann ist es vor allem das Ergebnis von vielen Monaten der Kommunikation. Die Mauern, die Fenster, die Zimmer, vom Keller bis zum Dach, von den Böden bis zu den Lichtschaltern: Sie alle sind aus dem vielleicht kostbarsten Baumaterial gefügt, das es gibt – dem Gespräch. Und an dieser Stelle möchte ich der Architektin danken, die all das ermöglicht hat: Sie heißt Judith Eiblmayr und hat übrigens jüngst einen lesenswerten Band über die erstaunliche Siedlungsgeschichte von Strasshof herausgebracht.

Sicher bin ich nicht der Einzige, der, sei es als Architekt, sei es als Bauherr, schon solche oder wenigstens ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Doch das Bild des Architekten, wie es sich, nicht zuletzt befördert von Publikationen wie der eingangs erwähnten, in der Öffentlichkeit repräsentiert findet, entspricht dem geraden Gegenteil von dem eines  Kommunikators. Da haben wir es mit dem einsamen Künstler zu tun, der mit großer Geniegebärde seine womöglich wahnwitzig übersteigerten Ideen aufs Papier oder auf den Computerbildschirm wirft, ohne Achtung für die Menschen, die betroffen sind, ohne Achtung für die Welt, die ihn umgibt, ohne Achtung für die Wirklichkeit. Und das zu Honoraren, die unsereinem den Atem nehmen. Dass die Wahrheit womöglich ganz anders aussieht, hat da nicht viel zu bedeuten. Solange nicht einmal einer wie ich mit der größten Selbstverständlichkeit ein Architekturbüro betritt, wenn es der Sache nach angezeigt ist, so selbstverständlich, wie einer zum Arzt geht, wenn ihn der Magen drückt, so lange, meine ich, liegt ein ordentliches Stück Bewusstseinsbildung vor der Architektenschaft.

Denn es reicht nicht, mit noch so ambitionierten Vorzeigeprojekten die Welt zu bestücken. Die Qualität einer Architekturlandschaft zeigt sich für mich darin, dass sie die Allgemeinheit ganz und gar erfasst, Architektur nicht als exklusive Angelegenheit für eine Handvoll Auserwählter, seien es Private, seien es öffentliche Institutionen, sondern als etwas, was jedermann und jederfrau zu Diensten ist, wenn er/sie ihre Dienste benötigen.

Eine Architektur für alle muss das Ziel sein, nicht um eine heranwachsende und immer zahlreicher werdende Architektenschaft mit Arbeit zu versorgen, sondern weil so, und nur so, ein intelligenter, kreativer, schonender Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen möglich ist, allen voran der vielleicht wichtigsten und gleichzeitig knappsten Ressource überhaupt: der Gestalt der Welt, die uns umgibt.

Nein, es sind nicht die paar spektakulären Solitäre, die diese Gestalt prägen; es  ist der Normalfall, die Dutzendbauaufgabe, der gestalterische Alltag. Wie viele neue Universitätsquartiere gibt es – und wie viele Einfamilienhäuser? Wie viele große Museen gibt es – und wie viele Lagerhallen? Erst wenn auch dort qualitätvolle Architektur mit der größten Selbstverständlichkeit  angekommen ist, erst wenn die Handvoll einschlägiger Beispiele, die heute schon zu finden sind, nicht mehr wie veritable Wunderdinger durch die Architekturpublizistik gereicht werden, sondern einfach als das Übliche  gelten, erst dann wird die Architektur dort sein, wo sie für mich hingehört – und wo sie sich so selten präsentiert sehen will: mitten im Leben.

Dass wir davon noch ein gutes Stück entfernt sind, wird jeder wissen, der sich offenen Auges durch Österreich bewegt. Warum das so ist? Da muss ich auch vor meiner, der medialen Türe kehren.

Ein Gutteil architektonischer Berichterstattung heimischer Medien entfällt auf Architekten und auf Bauten, die so weit  entfernt vom – sagen wir – Alltag in einem Wiener Arbeiterbezirk sind wie der Mann im Mond von der Wirklichkeit. Dieser Zug ins Sensationell-Spektakuläre hat unterschiedliche  Hintergründe: zum einen den urmenschlichen, dass uns, also die Leser,  Seher, Hörer, die Öffentlichkeit insgesamt, das offenkundig Außerordentliche zunächst einmal mehr interessiert als das, was seine besondere Qualität möglicherweise erst auf den zweiten, dritten Blick erweist oder womöglich erst in seiner freudvollen Nutzung über Jahre. Zum anderen darin, dass ein schiefer Winkel nun einmal leichter als „besonders“ zu erkennen ist als ein rechter, eine vielfach gekrümmte Titanplattenhaut eher wundernimmt als schlichter Verputz, dass irgendein dekonstruktivistisches Glasgebirge eher staunen macht als der noch so raffiniert  gewählte Rhythmus einer einfachen Lochfassade – und dass sich über Wolkenschlösser so viel einfacher schreiben lässt als  über Differenzierung im Detail, wohldurchdachte Grundrisse, Sorgfalt in der Materialienwahl.

Verkürzt gesagt: 100 Zeitungszeilen über das Guggenheim-Museum in Bilbao haben wahrscheinlich hundert- oder tausendmal mehr Leser als der Bericht über ein noch so klug ausgeführtes Kleinspital in Hintertupfing, und man braucht nicht einmal einen  intimen Kenner der Materie, der sie schreibt, das kann zur Not auch der lokale Korrespondent erledigen, der sonst nur über Wirtschaft oder Politik berichtet und sich im Übrigen keinen Tupf um Architektur schert –  denn das Spektakel liefert auch ihm Erzählstoff  in Fülle,  und die Beschränkung auf  100 Zeitungszeilen macht eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung überflüssig. Ergebnis: Es sind die Architektur gewordenen Hungerkünstler, die Damen ohne Unterleib, die Elefantenmenschen, die unser Bild davon, was zeitgemäße Architektur ist, in der Öffentlichkeit maßgeblich bestimmen, eine Freak Show, die wir gern besichtigen, wie wir die Jahrmarktsensationen vergangener Tage besichtigt haben – mit wohligem Gruseln und zugleich in der Gewissheit, dass all das mit uns selber gottlob gar nichts zu schaffen hat.

Um nicht missverstanden zu werden: Zu den großen, faszinierenden architektonischen Eindrücken meines Reiselebens zählt unstreitig ein Besuch im Guggenheim-Museum zu Bilbao, und dass es nur beschränkt seiner  eigentlichen Aufgabe dienlich ist, nämlich Ausstellungen die rechten Spielflächen zu liefern, sehe ich ihm jederzeit angesichts der Urwucht seiner äußeren Figur, seines inneren Raumgefüges und nicht zuletzt angesichts seiner so gut wie vollkommenen Positionierung im Stadtganzen nach. Nur: Stellen wir uns einmal eine Welt voller Guggenheim Bilbaos vor.

Das heißt: In Wirklichkeit gibt es die ja schon längst. Frank Gehrys Metallplatten-Etüden finden sich mittlerweile beispielsweise auch in Seattle, Los Angeles, Chicago oder Hannover. Wie sich überhaupt und ganz und gar global Städte, die etwas auf ihre Weltläufigkeit halten, an ihren Rändern oder auch in ihrer Mitte neuerdings eine Art Architekturzoo einrichten, in die ihnen die gerade angesagtesten Architekturschöpfergötter die seltsamsten Kreaturen setzen – weil diese Städte an dem mitnaschen wollen, was  in jedes Handbuch der  Tourismusindustrie mittlerweile als „Bilbao-Effekt“ Einzug gehalten hat. Ja, Architektur ist hip und hopp – aber welche Architektur?

Und wenn dann die zu Role Models gepushten Architektensuperstars den Mund aufmachen, dann ist das, was da herauskommt, mitunter so gar nicht angetan, den Eindruck der Weltfremdheit zu konterkarieren und womöglich – im Gegenteil – Lebensnähe zu belegen. Was soll sich, nur so zum Beispiel, ein angehender Häuselbauer denken, wenn er hört, dass einer der Vorzeigearchitekten des Landes sich seit Jahr und Tag den Kampf gegen die Schwerkraft zum Ziel gesetzt hat? Er wird sich denken: Meinetwegen, aber bitte nicht bei mir zu Haus. Und unter uns gesagt: Würden Sie jemals mit ihrem Magendrücken einen Arzt aufsuchen, der Ihnen erklärt, dass so ein Magen-Darm-Trakt eh zu nichts gut ist?

Was soll sich derselbe Häuselbauer denken, wenn er hört, dass einer der vornehmsten Vertreter internationaler Architektenzunft die x-fache Überschreitung der Baukosten seines Renommierprojekts kühl mit dem Hinweis rechtfertigt, um an einen solchen Auftrag zu kommen, müsse man halt lügen? Da sei man eben am Anfang gezwungen, „Vertragsinhalte zu akzeptieren, von denen Sie wissen, dass sie falsch sind“. Würden Sie Mitgliedern eines Berufsstands, dessen renommierteste Proponenten es mit der Vertragswahrheit routinemäßig nicht ganz so genau nehmen, Ihr über Jahrzehnte mühsam Zusammengespartes überantworten – oder auch nur einen Gebrauchtwagen abkaufen?

Mein Bild des Architekten ist ein ganz anderes: das eines Menschen, der seinen Beruf nicht zuletzt als einen sozialen versteht, fernab eines Geniekults, dafür aktives Mitglied einer Gesellschaft, an deren innerem, ästhetischem wie menschlichem Zusammenhalt er nicht nur teilhat, sondern wirkmächtig mitarbeitet. Es geht um den Diskurs, den Austausch, das Gespräch unter Gleichberechtigten, die ihre je eigenen Erfahrungen und Kenntnisse in diesen Diskurs, diesen Austausch, dieses Gespräch einbringen – zum Nutzen aller.

Ich weiß, dass es diese Architekten gibt, ich habe es nicht zuletzt selbst als Bauherr erlebt, und mit einiger Gewissheit sind sie sogar weit in der Mehrheit. Doch ihre Stimmen sind die leiseren – und deshalb gilt es, sie lauter zu machen. So laut, dass die paar Alphatiere, die heute das Erscheinungsbild des Architekten in der Öffentlichkeit dominieren, endlich die Rolle einnehmen, die ihnen im besseren Falle zusteht: als Anreger, Aufreger, Querdenker – nicht als Maß dafür, was es heißt, Architekt zu sein.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 18. Jänner 2014

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