Onkel Karl aus dem KZ

Warum der Loipersdorfer „Zigeuner“ Karl Horvath, kaum aus dem Konzentrationslager befreit, vor dem Linzer Volksgerichtshof stand. Und was ihm nach sechs Jahren Haft in einem Nachkriegs-Gefängnis vom Leben blieb. Aus den Jugendtagen der Zweiten Republik.

 

„Der Onkel Karl war immer da. Er war ja wie ein Vater zu mir.“ Hel mut H. hat es schon am Telefon eifrig beteuert, fast so, als sei er erleichtert, dass ihn jemand gefunden hat, dem er endlich von Onkel Karl berichten kann. Diesem Onkel Karl, recte Karl Horvath, der gar nicht sein Onkel war, ein Onkel ehrenhalber halt, wie man als Kind damals, in den Fünfzigerjahren, jeden älteren Vertrauten der Familie zu nennen angehalten wurde.

Jetzt sitzen wir einander in der Imbissstube des Welser Bahnhofs gegenüber, kein Ort, den man gemütlich nennen könnte, eher Durchgangsstation, die man lieber verlässt, als sie betritt. H., Jahrgang 1948, hat Erinnerungsfotos mitgebracht, von seiner Firmung, von Weihnachten im Familienkreis. Und Karl Horvath ist immer dabei. Von einer Kindheit und Jugend der Nachkriegsjahre berichtet H., einer Kindheit und Jugend am äußersten Linzer Stadtrand. Berichtet davon, wie es dort so zugegangen ist, in den Barackensiedlungen des Zöhrdorfer Felds. Und er berichtet, wie er einmal, es muss schon in den 1960ern gewesen sein, an der Seite von Karl Horvath die KZ-Gedenkstätte Mauthausen besucht hat. „Da hat er mir die Todesstiege gezeigt, hat mir gezeigt, wo der Galgen war, hat erzählt: Immer, wenn einer aufgehängt worden ist, haben wir von der Lagerkapelle spielen müssen.“ Und: „Er hat nie mit Verbitterung über diese Zeit geredet. Meistens überhaupt nichts.“

Diese Zeit, es ist die Zeit, die Karl Horvath, kaum aus dem Konzentrationslager befreit, einen Prozess vor dem Volksgerichtshof Linz einträgt. Die Anklage: Horvath habe „im Laufe des Jahres 1944 und bis zum 5. 5. 1945 im Lager Gusen II, somit zur Zeit der nat.soz. Gewaltherrschaft“ zum einen „das Verbrechen des Mordes nach ¶ 134 Strafgesetzbuch“ sowie „das Verbrechen nach ¶ 3/2 Kriegsverbrechergesetz begangen und sei hiefür nach der zuletzt genannten Gesetzesstelle zu bestrafen“. Dieses Kriegsverbrechergesetz, aus dem Juni 1945 datierend, sieht unter besagter Stelle, „Quälereien und Misshandlungen“ betreffend, folgendes Strafmaß vor: „Wurden durch die Tat die Menschenwürde und die Gesetze der Menschlichkeit gröblich verletzt oder hatte sie den Tod des von ihr Betroffenen zur Folge, soll das Verbrechen mit dem Tode bestraft werden.“ Am Ende wird Karl Horvath einer von 18 Verurteilten sein, die wegen Tötungsdelikten im KZ-Komplex Mauthausen/
Gusen und seinen Außenlagern vor einem heimischen Volksgerichtshof stehen. Und er wird der Einzige sein, dem nach langen Jahren eine Revision des Urteils gelingt.

Als Karl Horvath am 31. März 1916 geboren wird, gehört der Ort des Geschehens, Loipersdorf, gerade noch dem Königreich Ungarn an. Der spätere Wechsel der Bürokratien hinein ins Burgenländische wird ihm eine namentliche Doppelexistenz bescheren: In amtlichen Dokumenten findet er sich ab da abwechselnd als Horvath mit V wie als Horwath mit W geführt. Karl Horvath ist gerade sieben Jahre alt, als sein Vater stirbt. Doch sein Lebensweg scheint, damals wie heute gängigen Vorstellungen nach, ohnehin vorgezeichnet: „Der Untersuchte wurde nicht zur Schule geschickt“, notiert sehr viel später ein Arzt des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Linz in einen Patientenbogen und fügt in Klammern das Wort „Zigeuner“ bei, als erkläre sich das eine durch das andere quasi von selbst.

Tatsächlich nehmen sich, den amtlichen Fakten nach, die Jugendjahre Horvaths aus, als habe es jemand darauf angelegt, möglichst alle Zigeunerklischees in einer Person zu bündeln. Horvath steht, nicht einmal 15 Jahre alt, ein erstes Mal vor Gericht (das Delikt: „Diebstahl minderer Art“) und wird auch prompt verurteilt: zu zehn Tagen Arrest, bedingt ausgesprochen. Die Bewährungsfrist von drei Jahren hat sich wenige Monate später erledigt: Eine weitere Verurteilung desselben Delikts wegen schließt an. Drei weitere Verurteilungen folgen bis zum Erreichen des 20. Lebensjahrs, die letzten beiden wegen Verstoßes gegen das Gesetz vom 24. Mai 1885, besser bekannt als Vagabundengesetz, das „Landstreicherei“ und Betteln unter Strafe stellt. Und allein die wechselnden Gerichtsstandorte der Verfahren (Oberwart, Wien, Lilienfeld, zuletzt Hartberg) weisen auf ein scheinbar zielloses Umherstreifen hin.

Freilich, Akten sind eine Sache, die Wirklichkeit ist eine immer wieder ganz andere. Was in keinem Strafregisterauszug und in keinem Leumundszeugnis steht: Schon allzu früh ist Horvath offensichtlich auf sich allein gestellt. Einer von vielen Hinweisen darauf: Von Familie wird in späteren Jahren wenig die Rede sein. Ein einziges Mal, als seine sechs Jahre jüngere Schwester 1969 stirbt (übrigens auch sie Überlebende einer mehrjährigen, qualvollen Tour durch mehrere Konzentrationslager), wird aktenkundig, dass da noch jemand anderer ist: Horvath ersucht um ein Darlehen von 3000 Schilling, das er in monatlichen Raten von 300 Schilling aus den Mitteln seiner Opferfürsorge rente rückzuerstatten vereinbart, um das Begräbnis ausrichten zu können. Die Beziehung zur Mutter ist zu diesem Zeitpunkt sowieso längst kein Thema mehr: Sie gehört der geschätzten halben Million Sinti und Roma an, die der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten zum Opfer fällt.

Jedenfalls ist Horvath mutmaßlich noch halbwüchsig, spätestens ab Beginn der 1930er, genötigt, sein Auskommen allein zu bestreiten, verdingt sich laut eigener Aussage vornehmlich im Straßenbau und in der Landwirtschaft, soweit es Weltwirtschaftskrise und weit verbreitete Vorurteile jedem gegenüber, der als „Zigeuner“ gilt, zulassen. Und zwischendurch lernt er ein geschätztes halbes Dutzend Musikinstrumente spielen, was ihm noch ganz anders nützen wird, als er es vermutlich je gedacht – als Mitglied der Lagerkapelle eines KZs.

Als man 1938, nach dem „Anschluss“, umgehend auch die „Zigeunerfrage“ einer „Lösung“ zuzuführen beginnt, ist der Boden längst für die Verfolgung jener bereitet, die man damals „Zigeuner“ nennt. Schon zu Monarchiezeiten, etwa durch das bereits erwähnte Vagabundengesetz, geriet, „wer geschäfts- und arbeitslos umherzieht“, in den Fokus der Justiz, wuchs eine nicht näher bestimmte (und nicht bestimmbare) „Arbeitsscheu“ zum justiziablen Delikt, was den bis heute bekannten Kurzschluss von Arbeitslosigkeit und „Arbeitsscheu“ beförderte.

War freilich im Vagabundengesetz noch nicht direkt von „Zigeunern“ die Rede, so formulierte in der zweiten Hälfte der 1920er das Bundeskanzleramt den Entwurf eines Gesetzes, „womit Maßnahmen zur Bekämpfung der Zigeunerplage getroffen werden“, das allerdings aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken Entwurf blieb. Der Bezirkshauptmann von Oberwart wiederum schlug 1933, anlässlich einer „Zigeunerkonferenz“, allen Ernstes die Deportation der „Zigeuner“ auf Inseln im Stillen Ozean vor. In ihrer Studie „Der Holocaust an den österreichischen Roma und Sinti“ weisen Gerhard Baumgartner und Florian Freund auf die Ursachen dieser Radikalisierung hin: „Nach 1918 waren die Märkte für die Produkte und Dienstleistungen der ,Zigeuner‘ im Burgenland erheblich geschrumpft. In der Weltwirtschaftskrise verloren außerdem viele ihre Gelegenheitsarbeitsplätze. Das steigerte die finanzielle Belastung der Gemeinden, denen die Armenfürsorge oblag. Diese Entwicklung begünstigte in der ohnehin armen Landbevölkerung die Ressentiments gegen die ,Zigeuner‘.“ Ähnlichkeiten mit aktuellen Tendenzen in der Flüchtlingsdebatte sind kaum zu übersehen. Nur dass die kriminalisierten „anderen“ im damaligen Falle hierzulande seit Jahrhunderten zu Hause waren.

Als Anfang Juni 1939 das Berliner Reichskriminalpolizeiamt die Einweisung von 3000 burgenländischen „Zigeunern“ in Konzentrationslager anordnet, haben diese angeblich doch so Arbeitsscheuen erstaunlicherweise gerade sehr viel zu tun: Die kriegsvorbereitende Rüstungskonjunktur macht’s möglich. Was den steirischen Gauleiter, Sigfried Uiberreither, gar zu – sanfter – Kritik an den Zigeunerdeportationen bewegt, handle es sich doch um „Zigeuner“, „die weder vorbestraft noch arbeitsscheu sind oder in anderer Weise der Allgemeinheit zur Last fallen“. Um schließlich das eigentliche Motiv der Aktion in ungeschminkter Deutlichkeit zu offenbaren: Dennoch wolle er „ihre Unterbringung in Zwangsarbeitslagern aus der Erwägung heraus anordnen, dass ein Zigeuner als außerhalb der Volksgemeinschaft stehend stets asozial ist“. Kurz: Ein „Zigeuner“ kann nur schuldig sein.

Karl Horvath ist einer dieser 3000 „stets Asozialen“: Am 28. Juni 1939 wird er ins Konzentrationslager Dachau verbracht, von dort noch im selben Jahr nach Buchenwald, von dort wiederum im Mai 1941 ins „Konzentrationslager Mauthausen, Kommando Gusen“. Vier Jahre später öffnen sich den US-Truppen die KZ-Tore von Gusen und Mauthausen, und Horvath darf sich glücklich schätzen, einer der wenigen Überlebenden der Todeslager zu sein. Karl Horvath ist ein freier  Mann – für wenig länger als ein Jahr.

Als „Flüchtlingsflut“ oder „Flüchtlingslawine“ haben sich die Ereignisse des Sommers und Herbsts 2015 im öffentlichen und veröffentlichten Bewusstsein festgesetzt. Freilich, verglichen mit dem, was sich im Sommer 1945 und in den Jahren danach in Sachen Flüchtlingsbewegungen im eben erst sich wieder konstituierenden Österreich begibt, nimmt sich all das vernachlässigenswert aus. Namentlich in das Gebiet des heutigen Oberösterreichs strömt alles, was irgendwie dazu noch in der Lage ist: Jene, die vor der anrückenden Roten Armee Richtung Westen hasten, treffen auf Rückkehrer aus dem vormaligen Deutschen Reich, die kein Interesse haben, in Wohnorte zurückzukehren, die mittlerweile unter Sowjetverwaltung stehen. Versprengte Umsiedler oder auch sogenannte Volksdeutsche verschiedenster Provenienz, Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen, Bessarabien- und Wolhyniendeutsche, finden sich in eilig aus dem Boden gestampften Barackenlagern oder in aufgelassenen KZ-Struktu ren Seite an Seite mit freigekomme nen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.

Auch ein großer Teil der überlebenden KZ-Häftlinge sieht sich genötigt, vorerst dort auszuharren, wo man sie jahrelang geschunden, gefoltert, in jeder nur erdenklichen wie bis dahin unerdenklichen Weise erniedrigt hat. Und während etwa jüdische Nazi-Opfer immerhin darauf hoffen dürfen, irgendwann in einer zunächst völlig unbestimmbaren Zukunft die USA, Kanada oder das weit überwiegend angestrebte Ziel, Palästina nämlich, zu erreichen, wird anderen, insbesondere den in der KZ-Nomenklatur als „Rotspanier“ geläufigen Franco-Flüchtlingen, einst aus dem besetzten Frankreich in reichsdeutsche KZs deportiert, das Erreichen ihres Ziels, in die Heimat zurückzukehren, für immer verwehrt bleiben. Die meisten dieser so heterogenen Gruppen sehen sich alsbald unter einem allgegenwärtigen Kürzel vereinigt: „DPs“ für „Displaced Persons“ – Menschen, die ohne Ort und oft auch ohne Hoffnung sind.

Die Truppen der Besatzungsmacht einberechnet, schwillt die Einwohnerzahl Oberösterreichs binnen weniger Wochen von den 1937 ermittelten 900.000 auf mehr als das Doppelte, knapp zwei Millionen, an, was umso schwerer wiegt, ist doch die Infrastruktur, nicht zuletzt die an Baulichkeiten, durch die Kriegsereignisse schwerst in Mitleidenschaft gezogen. So sind in Linz von den 10.500 Häusern knapp drei Viertel beschädigt oder zertrümmert. „Die Linzer Straßen waren an 800 Stellen zerstört, die Straßenkanäle an 330 Stellen, die Straßenwasserleitungen an 626, die Gasleitungen an 858 und die Starkstromleitungen an 3093 Stellen“, weiß der Linzer Historiker Michael John. Wobei das Flüchtlingsthema nur südlich der Donau schlagend wird, Teil der US-amerikanischen Besatzungszone. Die sowjetischen Besatzer nördlich der Donau nämlich dulden von vornherein kaum Flüchtlinge in ihrem Einflussbereich.

So kann ein „Organ des werktätigen Volkes“, „Der Mühlviertler“, im August 1947 von der „Sicherheit“ schwärmen, „wie sie heute im Mühlviertel herrscht, nachdem die russische Besatzungstruppe allen arbeitsscheuen DPs kurz und bündig den richtigen Weg gewiesen hat.“ Der da wäre: „Schiebt sie ab, woher sie kamen!“ Hat man neuerdings auch des Öfteren wieder gehört, wenngleich nicht primär aus jenen politischen Himmelsrichtungen, aus denen „Organe werktätiger Völker“ in jenen Tagen ihre Parolen unters werktätige Volk brachten. Und geradezu prophetisch der Zynismus, mit dem hier anderen weise Lehren erteilt werden in einer Notlage, die man selbst durch eine rücksichtslose Ausschaffungspolitik miterzeugt hat.

Dass tatsächlich in dem politischen wie ethnischen Gedränge, das sich da im US-amerikanischen Sektor Oberösterreichs bedrohlich zusammenschiebt, verschärft durch eine zunächst zwangsläufig mangelhafte Nahrungsmittelversorgung, Konflikte nicht ausbleiben, wird niemanden überraschen können angesichts gegenwärtiger Krisenbeschwörungen, denen bereits weitaus geringere Migrationsbewegungen, und das im besten Wohlstand, als Vorwand für kulturkämpferische Weltuntergangsverheißungen genügen. Vom Schleichhandel über Plünderungen bis zu Diebstahl und Raub reicht  das Repertoire verzweifelter Versuche, sich irgendwie – und das nicht selten buchstäblich – durchs Nachkriegsleben zu schlagen; sexuelle Übergriffe, Missbrauch, Vergewaltigung sind der aufgepeitschten Wirklichkeit jener Tage genauso geläufig wie Mord. Und die so genannte Entnazifizierung ist noch nicht einmal richtig angelaufen, da kommt es schon zu antisemitischen Ausschreitungen, als habe das Dritte Reich nie aufgehört zu existieren.

Jüdischen DPs in Linz gelingt es zwar, mit einem Protestmarsch, bei dem sie mangels anderem KZ-Kluft und Reste von SS-Uniformen tragen, auf ihre beklemmende Situation so nachhaltig hinzuweisen, dass die US-Militärregierung in der als „Hitlerbauten“ geläufigen Großsiedlung Am Bindermichl zwei Blocks requiriert und den jüdischen DPs zur Verfügung stellt (Motto: „DPs are moved in; Nazis out.“); doch schon wenige Wochen später, im Dezember 1945, meldet die Linzer Polizei eine Auseinandersetzung mit verletzten Personen: Bei einer Bushaltestelle kommt es zwischen dem Busfahrer, jüdischen DPs und Fahrgästen zu einer Schlägerei, nachdem der Schaffner den DPs den Zutritt verwehrt und ein Fahrgast, ein Messer zückend, skandiert hat, dass „die Juden aufgehängt gehörten“, so der Polizeibericht.

Dass General Mark Clark, US-Oberbefehlshaber und Hochkommissar für Österreich, dezidiert erklärt, Juden hätten als „meistverfolgte Gruppe Anspruch auf bessere Behandlung“ als andere, samt dem nachfolgend quasi exterritorialen Status jüdischer DP-Lager, bessere Nahrungsversorgung inklusive, macht das Verhältnis zu Einheimischen wie auch zu anderen Gruppen unter den DPs nicht entspannter. All das unter den aufmerksamen Augen eines noch in einem altösterreichischen Galizien geborenen gelernten Architekten, der eben erst selbst dem KZ Mauthausen entronnen und in Linz ansässig ist: Simon Wiesenthal.

Wiesenthal sammelt in den Lagern Aussagen von Überlebenden, erstellt Täterlisten, gründet schließlich 1947 ein eigenes Büro zur Ausforschung von NS-Verbrechern. Und er verfolgt mit, was sich in jenen Tagen vor dem Volksgerichtshof Linz begibt: Da ist ein Karl Horvath angeklagt, der sich selbst „Zigeuner“ nennt, und die, die bezeugen, er habe Mithäftlinge im KZ gequält, ja sogar getötet, die werden in den Personalangaben ihrer Vernehmungsbögen allesamt „mosaisch“ oder „jüdisch“ genannt.

7. Juni 1946. Am 149. Tag des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher wird das Kreuzverhör Alfred Jodls abgeschlossen, vormals Chef des Wehrmachtführungsstabs. In Wien trifft ein Transport mit 527 österreichischen Kriegsgefangenen aus Jugoslawien ein. „Sämtliche Heimkehrer befanden sich in sehr geschwächtem Gesundheitszustand, so dass 266 von ihnen sofort in Spitalspflege übergeben werden mussten“, melden die „Oberösterreichischen Nachrichten“. Der italienische Radrennfahrer Gino Bartali gewinnt den Giro d’Italia. Und ein Protokollant der Polizeidirektion Linz notiert: „Es erschien der Schneidergehilfe Hermann Langer, am 29. 12. 1920 in Wielopole, Polen, geboren, staatenlos, mos., ledig, Am Bindermichl, Uhlandstr. 24, wohnhaft, und gab an, dass er von 19. 10. 1944 bis 5. 5. 1945 als politischer Häftling Nr. 107.832 im Lager Mauthausen und Gusen II war. Am heutigen Vormittag traf er auf der Landstraße einen KZ-Häftling, der zur selben Zeit Stubendienstkapo war und bei der Ermordung von ungefähr 300 bis 400 KZ-Häftlingen beteiligt war. Er erkannte den Betreffenden auf der Straße und brachte diesen zur Polizeidirektion.“ Stubendienstkapos: Das sind jene schwächsten Glieder in der Kette sogenannter Funktionshäftlinge, die, von der SS im Rahmen der Häftlingsselbstverwaltung eingesetzt, berufen sind, die Mithäftlinge, und zwar mit allen Mitteln, unter Kontrolle zu halten – was der SS ihrerseits erspart, sich die Hände im KZ-Alltag noch mehr schmutzig zu machen, als sie es ohnehin schon tut.

Karl Horvath ist nicht allein, als er Hermann Langer begegnet. In der späteren Zeugenaussage seiner ihn begleitenden Verlobten vor Gericht nimmt sich das Aufeinandertreffen etwas rustikaler aus: „Wir waren in Linz und standen vor der Drogerie ,Zum Samariter‘. Auf einmal kam der blonde Jude oder Pole und sagte: ,Du warst in Gusen II.‘ Der Angeklagte sagte: ,Nein, ich war in Gu sen I.‘ Der Jude sagte: ,Du Spaniol. Geh mit mir.‘ Wir sagten, wir haben keine Zeit. Es kam dann ein Kamerad von ihm. Er packte ihn“ – nämlich Horvath – „und sagte: ,Wie viele Juden hast du umgebracht.‘ Er hat geschrien, und wir gingen in die Mozartstraße.“ Wo sich damals die Polizeidirektion Linz befindet.

Horvath befindet sich nur auf Kurzbesuch in Linz, wohnt zu dieser Zeit eigentlich in Mauthausen, verdingt sich dort als Magazinarbeiter in einer Lebensmittelgroßhandlung und wird zu seiner Verteidigung immer anführen, er werde wohl verwechselt – er wäre ja wohl nicht in der Region geblieben, hätte er so schwere Schuld, wie ihm nun angelastet, auf sich geladen. Und mit derselben Vehemenz, mit der ihn im folgenden Gerichtsverfahren eine Reihe jüdischer Zeugen beschuldigt, allesamt vormalige KZ-Häftlinge, nimmt ihn eine Reihe von „Rotspaniern“, detto allesamt vormalige KZ-Häftlinge, gegen die Beschuldigungen in Schutz. Der Szenerie muss etwas Gespenstisches eigen gewesen sein: Während sich vor dem Linzer Volksgericht Nazi-Opfer unterschiedlicher Provenienz – Juden, sozialistische Freiheitskämpfer, nicht zuletzt „Zigeuner“ – mit unversöhnlicher Verbissenheit befehden, können sich Täter und Mitläufer im Zuschauerraum zurücklehnen und das Schauerstück genießen, das da vor ihren Augen abläuft.

Schon am ersten Verhandlungstag münden die Auseinandersetzungen fast in Handgreiflichkeiten. Unter dem Titel „Krawall im Gerichtssaal“ berichtet das „Linzer Volksblatt“: „Drei Zigeuner, die selbst sieben Jahre im KZ zubrachten, mussten aus dem Gerichtssaal entfernt werden. Bei ihrem Abgang riefen sie: ,Die Juden lügen!'“ „Der Mühlviertler“ wiederum nennt den Angeklagten ohne Zaudern einen „menschgewordenen Teufel“ und weist im Übrigen eindrücklich nach, dass unsere sieben Jahre Tausendjähriges Reich weniger lang vorbei sind, als man meinen möchte: „Während der Verhandlung befand sich auch eine Anzahl Zigeuner im Verhandlungssaal als Zuhörer, die sich ungefragt in den Gang des Beweisverfahrens einmischten, um ihrem Artgenossen Schützenhilfe zu leisten.“ Ein „Zigeuner“ und seine „Artgenossen“: Da ist „Entartung“ nicht mehr weit.

Der zweite Verhandlungstag, ein halbes Jahr später, gipfelt in einem Disput, zu dem das Protokoll, sonst voller Zurückhaltung, unmissverständlich festhält: „Die Zeugen beschimpfen sich gegenseitig in unflätigster Weise.“ Am selben Tag ist auch Simon Wiesenthal geladen: Als Zeuge sagt er aus, was er über die Zustände im Lager Gusen II zu wissen meint. Ein wenig Expertise haben die Gerichte in diesen Tagen bitter nötig: So scheinen sie über wesentliche Aspekte einer KZ-Struktur nicht recht im Bilde. Nicht nur dass in den Verfahren gegen Funktionshäftlinge die bestehende Hierarchie unter ihnen nicht entsprechend gewürdigt worden sei, hätten „die Richter und Schöffen des Volksgerichts Linz offenbar nicht berücksichtigt, dass es sich bei den Verurteilten selbst um Opfer des Nationalsozialismus handelte“, so Peter Eigelsberger in einem Beitrag zu dem Band „Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht – Der Fall Österreich“.

Das zynische Kalkül der SS, einen Großteil der Disziplinierungsarbeit von den KZ-Häftlingen selbst erledigen zu lassen, wirkte so bis weit hinein in die Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit noch nach. Ganz abgesehen von der immer virulenten grundsätzlichen Frage, wie denn Schuld, wo ohne jeden Faktenbeweis Aussage gegen Aussage steht, mit der erforderlichen Gewissheit festzustellen sei.

Tatsache ist: Karl Horvath wird am 4. Februar 1948 zwar von der Anklage des Mordes freigesprochen, jedoch wegen des Verbrechens der Quälerei und Misshandlung nach ¶ 3 Absatz 2 Kriegsverbrechergesetz zu 15 Jahren schweren Kerkers verurteilt. Nebstbei „wird das gesamte Vermögen des Angeklagten zugunsten des Staates für verfallen erklärt“. Was im konkreten Fall mutmaßlich nicht allzu viel bedeutet: So musste Horvath für seine Verteidigung um die „Beistellung eines Armenrechtsvertreters“ bitten.

Dennoch: Schon kurz nach Haftantritt in der Strafanstalt Garsten beginnt Horvath einen verbissenen Kampf um die Wiederaufnahme des Verfahrens. Immer wieder macht er neue Zeugen namhaft, die für ihn sprechen könnten, und letztlich hat er tatsächlich Erfolg: Über den polnischen KZ-Opferverband wird der Kontakt zu einer Reihe von ehemaligen KZ-Häftlingen hergestellt, die bezeugen, Horvath sei immer nur Lagermusiker, aber nie Kapo gewesen; im Übrigen aber sei im Lager ein anderer als „Zigeunerkarl“ bekannt gewesen, der tatsächlich als Kapo Mithäftlinge misshandelt habe.

Am 26. Juni 1952, 9 Uhr, beginnt die Zweitauflage des Verfahrens gegen Karl Horvath und endet zwei Stunden später mit einem Freispruch im Zweifel – unter anderem auch deshalb, weil die Belastungszeugen von ehedem nicht mehr greifbar, vermutlich längst nicht mehr im Lande sind. Die Frage, ob Karl Horvath schuldig oder unschuldig gewesen sei, lässt sich bis heute nicht mit letztgültiger Sicherheit klären, desgleichen, wie und mit wessen Unterstützung ein so gut wie mittelloser Gelegenheitsarbeiter ohne Schulbildung aus der Haft heraus Verbindungen nach Po len zu knüpfen vermochte. Gleichviel: Per 26. Juni 1952 ist Karl Horvath, zum zweiten Mal, ein freier Mann. Und jetzt? Was jetzt?

„Ich wäre sehr daran interessiert, mehr über den Lebensweg Karl Horvaths zu erfahren“, schreibt mir ein Archivar der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, den ich um die Verifizierung der mir vorliegenden Daten zu Horvath gebeten habe. „Leider ist es nämlich so, dass uns für die Gruppe der burgenländischen Roma, die hier inhaftiert waren, biografische Informationen nur in marginalem Umfang bekannt sind.“

Dieser weitere Lebensweg führt Horvath keineswegs zurück in seine burgenländische Heimat, sondern in den Südwesten von Linz: aufs Zöhrdorfer (oder Zöhrendorfer) Feld, heute Teil des Bezirks Neue Heimat, dessen Disparatheit zwischen Wohnquartier, Ge werbegebiet, Kleingärten, Auwald und urbaner Brache von peripherer Ausgesetztheit kündet. Gerahmt von Mühlkreisautobahn, Traun, Pyhrnbahn und dem womöglich trostlosesten Straßenzug, den Linz zu bieten hat, der Salzburger Straße, findet sich ein Terrain, das auf eine mehrjahrzehn telange Lagergeschichte verweisen kann: von den Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs über die Notunterkünfte der Zwischenkriegszeit und die Lager der Nazi-Jahre bis zu den Flüchtlingslagern aus Nachkriegstagen. Am randständigsten in dieser allgemeinen Randständigkeit: das Zöhrdorfer Feld, ist es doch – unter anderem – Rastpunkt jener Nichtsesshaften, vulgo „Zigeuner“, die ursprünglich nur auf Durchreise, nach dem Zweiten Weltkrieg auch dauerhaft mit ihren Wagen hier haltmachen.

„Nach Einbruch der Dunkelheit mied man die Gegend“, erinnert sich ein Ortskundiger Jahrzehnte später in einem Band mit Lokalanekdoten; in Onlineforen wiederum kann man von „Mord und Totschlag“ und von einem Wirtshaus lesen, „wo beim Kartenspielen die Messer unten in der Tischplatte“ steckten. Helmut H. weiß anders Nuanciertes über das Viertel zu berichten, in dem er aufgewachsen ist: „Auf dem Zöhrdorfer Feld hat jeder jeden gekannt und jeder jedem geholfen. Und es hat auch jeder mit jedem gestritten.“

Karl Horvath tritt in sein Bewusstsein als Bewohner eines der „Zigeunerwagen“, die neben jenen Baracken stehen, in denen er selbst mit seinen Eltern lebt: „Meine Mutter hat gesagt: Der Karl muss zu uns, in seinem Wohnwagen zieht es im Winter.“ Wobei man sich auch die Baracken nicht übertrieben komfortabel vorstellen darf. Helmut H.: „Wir haben zwei Zimmer gehabt, einen kleinen Vorraum, einen kleinen Vorgarten. Keine Toilette, kein Wasser. Das Klo war am anderen Ende der Barackensiedlung, in einer eigenen Baracke, rechts davon der Brunnen.“ Nicht eben das, was man luxuriös nennen könnte, doch damals ein seltener Glücksfall. „Jeder hat versucht, so eine Wohnung zu kriegen.“ Und dafür schien kein Einsatz zu hoch: „Meine Mutter hat später erzählt, sie hat zum Vater gesagt: Hansl, kumm, wir heiraten, dann kriegen wir eine Wohnung. Eine Zweckehe. Aber sie waren viele Jahre verheiratet, und es hat nie etwas gegeben.“

Für Karl Horvath wird das Viertel in der Neuen Heimat tatsächlich neue Heimat, womöglich die erste und einzige, die er in seinem Leben hat. „Er war ja in der Siedlung bekannt wie ein bunter Hund, gesellig, hat mit jedem geredet“, erinnert sich Helmut H.; und weil auch die Mutter immer wieder Arbeit annimmt, ist es Karl Horvath, der den Haushalt führt, selbst dann, als man schon längst getrennte – freilich in unmittelbarer Nachbarschaft, in Neubauten auf dem Zöhrdorfer Feld liegende – Wohnungen bezogen hat: „Onkel Karl war eine richtige Hausfrau. Wenn der zusammengeräumt hat, dann war zusammengeräumt. Da hat man auf dem Boden essen können. Er hat gekocht, er hat gewaschen, er hat mich in den Kindergarten gebracht, hat mich vom Kindergarten wieder abgeholt. Ein lieber, netter Mensch.“ Ein lieber, netter Mensch, an dem die sechs KZ-Jahre samt den sechs Jahren in zweitrepublikanischer Haft nicht spurlos vorübergegangen sind. Schon während seiner Zeit in der Strafanstalt Garsten hat er sich einer ersten Magenoperation unterziehen müssen, mehrere Eingriffe folgen in den Jahren danach.

Seinen Lebensunterhalt bestreitet Horvath aus einer kleinen Opferfürsorgerente, auch eine Entschädigung für seine KZ-Haft wird ihm zugebilligt (im Unterschied zu der Mehrzahl anderer „Zigeuner“), eine Haftentschädigung für die Zeit in Garsten bleibt ihm, da nur „im Zweifel“ freigesprochen, allerdings verwehrt. Dafür wird sein objektiv ohnehin nicht eben glückdurchdrungenes Leben von schikanös scheinenden Untersuchungen sonder Zahl begleitet, mit denen behördlich geprüft werden soll, ob Horvath denn nicht endlich doch wieder voll arbeitsfähig sei, und wenn nicht voll, so wenigstens zu wie vielen Prozenten. Und dennoch, meist ist er – so Helmut H. – „gut drauf“: „Nur hie und da hat er einen über den Durst getrunken.“

Am 4. Jänner 1971 ist alles vorbei: Das kurze Leben des Karl Horvath endet auf dem Weg in die eigene Wohnung. Im Stiegenhaus fällt er vom ersten Stock ins Parterre und ist auf der Stelle tot. Diagnose: Herzinfarkt. Helmut H.: „Irgendwann hat das Herz halt nicht mehr das alles verkraftet, was er mitgemacht hat.“

Was geblieben ist von diesen nicht einmal 55 Lebensjahren? Zwei Aktenstapel in Oberösterreichs Landesarchiv. Zwei, drei Seiten in Peter Eigelsbergers Untersuchung zu den hiesigen Kriegsverbrecherprozessen. Ein paar Knochen in einem Grab des Stadtfriedhofs Linz/St. Martin, das längst neu belegt ist. Vor allem aber die Zuneigung eines Menschen, der Karl Horvath – so sagt er, und ich glaub ihm – nie vergessen wird. Immerhin.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 4. Februar 2017

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