Israel: Was man leichthin Wahrheit nennt

Das zerstörte Dolphinarium von Tel Aviv. Abrahams geteiltes Grab in Hebron. David Ben-Gurions Wüstenklause. Die Sonnenkollektoren des Negev. Momentaufnahmen aus einem heiligen Land voller Unheiligkeit auf der Suche nach einem Wunder.

 

Wie ein verwesender Wal liegt es am Strand, das Dolphinarium von Tel Aviv. Armierungsstahl ragt aus zerbrochenem Beton, zerschlagene Scheiben, zerschundener Verputz erzählen von geplatzten Hoffnungen, enttäuschten Erwartungen, letzthin von einer Nacht vor 16 Jahren, die aus Leid geborenes Leid gebar, mit jener erbärmlichen Konsequenz, wie vielleicht nirgendwo sonst fort und fort Leid aus Leid geboren wird.

Von einem „blau-weißen Disneyland“ träumten Zeitungsmeldungen und wohl auch Investoren anfangs, zu Beginn der 1980er, als das markante Betonrund seine Tore öffnete. Doch weder ein blau-weißes, den Flaggenfarben Israels nach, noch sonst irgendetwas disneylandartig Erfolgreiches wurde aus dem Unternehmen. Kein halbes Jahrzehnt, und die eigentümliche Mischung aus Shoppingcenter, Delfin-Show, Entertainmenthalle und Aquarium schlitterte in einen Bankrott, von dem sie sich nie mehr erholte. Nicht dass man versäumt hätte, einer so spektakulär angelegten Kubatur neues Leben einhauchen zu wollen. Doch ob Gastrozone oder Kino, Nachtklub oder Musicalspielort, was immer man versuchte, Fortüne blieb meistens aus oder, wo sie sich doch einstellte, war nur von kurzer Dauer. Als hätten sich in einer Stadt, die sonst so viel an Machbarkeit des Unmachbaren, an Möglichkeit des Unmöglichen offenbart, das Scheitern und der Fehlschlag diesen einen Ort in bester Meerblicklage ausgesucht, sich nach Lust und schlechter Laune auszutoben.

Dann dieser 1. Juni 2001. Im Dolphinarium, mittlerweile zur Diskothek „Dolphy“ fortgeschrieben, drängen sich wie in jenen Tagen jede Freitagnacht jugendliche Besucher, um vorgelassen zu werden, viele von ihnen Kinder von Emigranten aus Nachfolgestaaten des verblichenen Sowjetreichs. Da fällt er gar nicht weiter auf, der eine junge Mann, gekleidet, als sei er orthodoxer Jude, tatsächlich Saeed Hotari mit Namen, 22 Jahre alt, Palästinenser, in Jordanien aufgewachsen, Elektriker, eines von neun Kindern, vor zwei Jahren erst in den Palästinenserstaat gewechselt in der Hoffnung auf bessere Berufschancen, die sich nicht erfüllte und mutmaßlich gar nicht erfüllen konnte, ein „guter Mann, der zwar etliche Zeit beim Gebet in der Moschee verbrachte“, wie ein Nachbar später bezeugt, „aber keiner, von dem man gedacht hätte, er würde irgendjemandem etwas zuleide tun“. Es ist 23.27 Uhr, als Hotari noch, auf Hebräisch, „Gleich passiert etwas“ ruft und sich unmittelbar danach mitten im vergnügtesten Vergnügungsgewühl in die Luft sprengt. Mit ihm 20 Zivilisten, 16 davon jugendlich, und einen Soldaten.

„Ich bin sehr glücklich und stolz darauf, was mein Sohn getan hat“, wird Hotaris Vater wenige Tage später vom Londoner „Guardian“ zitiert, und: „Ich hoffe, alle Männer in Jordanien und Palästina werden dasselbe tun.“ Ein Grund, verstört zu sein?

In Wahrheit kann es kaum mehr verstören als die ewig gleichen Beileidsbekundungen, die ewig gleichen Entsetzensadressen, diese ganze weltweite Attentatsroutine seitens Politik, Prominenz und Journalismus, wie sie sich dieser Tage, anlässlich des Selbstmordanschlags von Manchester, wieder über uns ergossen hat: die notorischen Aufs-Schärfste-Verurteilungen und das unvermeidliche In-Gedanken-bei-den-Familien-der-Opfer-Sein, diese Copy-&-Paste-Bestürzung, gebastelt aus ewig denselben Textbausteinen. Nein, auch an jenem 1. Juni des Jahres 2001 ist die Welt keinen Augenblick lang stillgestanden, und nein, auch jener 1. Juni 2001 war keine Zäsur, nach der die betroffene Stadt nie mehr gewesen wäre, wie sie vorher war. Mittlerweile zeigt sich dieses Tel Aviv, 16 Jahre und zahllose weitere Attentate später, wie es seinem Ruf nach eben ist, quirlig und vital wie wenige andere, und wird es nach dem nächsten, dem übernächsten und dem überübernächsten Attentat auch schneller wieder sein, als es uns bis zum Überdruss geläufige Erschütterungsprosa glauben machen will. Das Leben geht weiter, auch oder vielleicht gerade angesichts alltäglich tödlicher Gefahr. Und wer sich vor dem Leben fürchtet, der ist doch lang schon tot.

Ein massiger, orangefarbener Kochtopf auf dem Elektroherd. Diverser Nippes in der Wohnzimmervitrine. Eine karierte Stoffcouch. Schlichte, grüne Lederfauteuils. Und wäre da nicht auch eine Kopie der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, die Zimmer samt ihrem Inventar könnten bald einmal wo auf Erden zu finden sein: in keiner Weise auffällig, schon gar nicht mondän, gehobener Durchschnittsgeschmack ihrer Zeit, der 1950er. Und außerdem mit nichts auf die Besonderheiten des Orts verweisend, an dem sie eingerichtet sind. Denn das Haus, zu dem die Zimmer gehören, steht mitten in der Wüste Negev, und der Bewohner, der sie sein Heim nannte, war niemand Geringerer als David Ben-Gurion.

Nicht dass jemand Israels Staatsgründer in die Wüste geschickt hätte. Ben-Gurion selbst war es, der sich 1953 entschloss, im Kibbuz Sede Boker eine neue Heimstatt zu finden, getreu der zionistischen Idee, die Wüste zum Blühen bringen zu wollen. Kein kleines Ziel in einem Land, das noch immer zu mehr als der Hälfte Wüste ist. Selbst wenn da und dort mittlerweile tatsächlich zwischen Steinen und Sand etwas blüht, davon, den Negev samt und sonders zum Blühen zu bringen oder womöglich gar zum Grünen, ist man noch immer weit entfernt. Ja manchmal könnte es fast scheinen, das Einzige, was in dieser Wüste wirklich gedeihe, seien Israels Haftanstalten, das Hochsicherheitsgefängnis Nafha etwa, das sich nur 20 Kilometer weiter südlich aus den Wüstenfelsen streckt, Beton und Nato-Draht gewordene Bedrohlichkeit, als gäb’s für alle, die da drinnen sind, kein Morgen, falls überhaupt ein Heute.

Was jedenfalls den agrarischen Kibbuz-Eifer von ehedem betrifft, so ist davon kaum mehr geblieben als von den Träumen, die mit der Idee des Kibbuz gesellschaftspolitisch einst verbunden waren. Von gemeinsamem Eigentum kann heute in aller Regel genauso wenig die Rede sein wie von Basisdemokratie, und ob etwas blüht oder auch nicht, hat in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Realität desgleichen nicht mehr die Bedeutung der Vergangenheit. Paradigmatisch, was David zu berichten weiß, wenn er durch einen, seinen Kibbuz führt, Kibbuz Ketura im südlichsten Negev-Zipfel: Das einst gepflegte kommunitäre „Jeder muss alles tun und können“ sei längst klarer Arbeitsteilung gewichen, und auch mit dem „Alles gehört allen“ sei’s vorbei. Genauso wie mit Produktionsideen, die einer ungeeigneten Umgebung aus ideologischem Bestemm Güter abtrotzen wollten, die diese partout nicht herzugeben bereit war, zumindest nicht zu ökonomisch realistischen Konditionen. Folglich sind hier, hart am Jordanischen, vom Agrarischen einzig die Dattelplantagen geblieben. Die dafür mit umso größerem Gewinn.

Gegenwärtige Haupteinkommensquelle: elektrische Energie, gewonnen aus Sonnenkraft, denn davon gibt’s, ein Lokalaugenschein lässt keinen Zweifel, weidlich genug an Ort und Negev-Stelle. Was Wunder, dass die Solarfelder, an denen wir vorbeikommen, zu den größten des Landes gehören. Passend auch, dass man sich überdies forschungs- und ausbildungshalber ökologischem Denken verschrieben hat: mit dem Kibbuz-eigenen Arava Institute for Environmental Studies, einer Forschungseinrichtung, die sich, erstaunlich genug in der vielleicht heftigst umfehdeten Region der Welt, als länderübergreifend wie interreligiös versteht. Denn, so David: „Die Umwelt hört ja nicht an den Grenzen auf.“ An agrarische Wunder glaubt hier keiner mehr, umso mehr an die wunderbare Kraft der Kooperation, freundlich genötigt durch den immer drängenderen Zwang, mit den engen Begrenzungen einer nicht gerade menschenfreundlichen Natur zurechtzukommen. „Langfristig wird uns gar nichts anderes übrig bleiben, als zusammenzuarbeiten“, meint David. Fragt sich nur, was lange Frist so heißt.

„Mein Name ist Mohammed.“ Mohammed sagt es mit einem Unterton belustigter Irritation, hat er sich doch, keine halbe Stunde ist es her, laut und deutlich vorgestellt. Und da fragt doch glatt einer aus der Gruppe, die er soeben durch Hebron führt, ob er, Mohammed, Moslem sei. Was denn sonst, wo er doch den Namen des Propheten trägt?

Hebron, Hauptstadt des Gouvernements Hebron, gut 200.000 Einwohner, 30 Kilometer südlich von Jerusalem und also mitten im Westjordanland. Nein, in der West Bank. Auch falsch, in Cisjordanien. Oder doch in Judäa? Wie immer man das Territorium, heute gemeinsam mit dem Gaza-Streifen Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete, halt nennen mag, je nach politischer, nationaler oder auch historischer Position. Soeben haben wir Machpela verlassen, das Grab der Patriarchen, biblischer Überlieferung nach jener Ort, an dem die drei Erzväter Abraham, Isaak und Jakob samt ihren Frauen, Sara, Rebekka und Lea, begraben liegen. Heilig dem Judentum und heilig dem Islam und also, wenig überraschend, streng nach Konfessionen aufgeteilt, halb Moschee, halb Synagoge: das Grab von Abraham und Sara in der Mitte, von beiden Seiten zu verehren, Isaak und Rebekka den Moslems, Jakob und Lea den Juden überantwortet. Religion im Schrebergarten: Gibst du mir deinen Isaak, geb ich dir meinen Jakob. Aber wer sich wie Abraham Stammvater dreier Weltreligionen nennen muss, den wird so etwas nicht wundern dürfen.

Mohammed hat uns nur durch den moslemischen Teil des Heiligtums geführt, den jüdischen zu betreten sei ihm verwehrt. Was keineswegs immer so war, wie er erzählt: Erst 1994 sei durch Gitter getrennt worden, was doch ganz ohne Frage zusammengehört. Nach jenem 25. Februar, an dem der 37-jährige jüdische Sanitätsoffizier Baruch Goldstein, geboren in Brooklyn, wohnhaft in Hebrons Vorort Kirjat Arba, sein Sturmgewehr in der Hand und vier wohlgefüllte Magazine bei sich, die Moschee-Seite der Machpela betrat, mitten im Ramadan, mitten im Morgengebet, um auf seine Art das zeitgleich stattfindende jüdische Purim-Fest zu feiern. 29 Menschen wurden getötet, mehr als 150 verletzt, Goldstein selbst schließlich, nachdem seine Magazine leer geschossen waren, überwältigt und von Überlebenden erschlagen.

Die Tat eines Wahnsinnigen? Jedenfalls nicht so wahnsinnig, dass der Täter nicht seine Versteher, ja Verehrer fände. Baruch Goldstein, diesem „aufrichtigen und heiligen Mann“, wurde gar ein Denkmal zuteil, das, 1999 zwar von israelischem Militär in öffentlichem Auftrag zerstört, mittlerweile wieder errichtet sein soll. Außerdem: Hier in Hebron, und nicht nur hier, hat ja doch alles seine Vorgeschichte. Konkret: das Massaker von 1980, bei dem arabische Extremisten eine Gruppe von Juden, vom Freitagsgebet heimkehrend, mit Granaten angegriffen haben, sechs Tote, 16 Verletzte. Nicht zu vergessen das Massaker von 1929, eine Treibjagd von Arabern auf Juden, 67 Tote, Anzahl der Verletzten unbekannt. Und dass der Großteil der damals 435 Köpfe zählenden jüdischen Gemeinde von Hebron ihr Überleben andererseits arabischen Nachbarn zu danken hatte, die sie vor dem Mob versteckten, scheint – je nach Erzähler – kaum mehr als eine Fußnote wert oder andererseits das Wesentliche überhaupt.

Es ist schon so: „Sie werden zwei völlig unterschiedliche Opfergeschichten hören“, hat Gabriel angekündigt, unser – jüdischer – Begleiter auf der Linienbusfahrt von Jerusalem nach Hebron, gebürtig aus Los Angeles und mittlerweile selbst in einem Vorort von Hebron zu Hause, unser Gefährte auch späterhin, anschließend an Mohammeds moslemische Hebron-Exegese, bei der Begegnung mit Hebrons jüdischem Quartier: jener Zone H2, die seit 20 Jahren von der sehr viel größeren palästinensischen Zone, H1, getrennt ist. Durch ein eigenes „Hebron-Protokoll“, ausgehandelt 1997 zwischen Benjamin Netanjahu und Jassir Arafat. Und durch eine Unzahl an Checkpoints und übermannshohen Betonelementen, die wechselseitige Übergriffe halbwegs kontrollierbar halten sollen. Als gelte es, wilde Tiere daran zu hindern, beständig übereinander herzufallen.

Wer Legitimierung für wechselseitige Feindseligkeiten finden will, wird sie auf jeder Seite finden. Und Wahrheiten sonder Zahl. Was den einen die Aggression jüdischer Siedler ist, mit der sie sich halb legal, halb illegal Palästinenserhäuser aneignen, die Willkür des israelischen Militärs an den Checkpoints, das Gefühl, nicht Herr im eigenen Land zu sein, sind den anderen Schmähungen und Steinwürfe bis hin zum Scharfschützenterror. Und wenn Mohammed uns den elend heruntergekommenen Suk der Palästinenser präsentiert, weist Gabriel wenig später von der Anhöhe der jüdischen Zone aus weit über die zehnfach größere der Palästinenser, Hochschule und Shoppingcenter inklusive, die zumindest auf Distanz wenig von Elend spüren lässt. In einem freilich sind sich beide unabhängig voneinander einig: dass Saudi-Arabien die jeweils andere Seite finanziert. Und noch in etwas anderem: dass die Zwei-Staaten-Regelung ein Unheil, dass nur ein gemeinsamer Staat für Juden und Palästinenser von Zukunft sei.

Im kleinen Museum zur jüdischen Besiedlung Hebrons wiederum berichtet Zipi, seine Hüterin, von jenem Tag, an dem ihr Vater ermordet wurde, von einem Palästinenser, der einfach durchs Fenster in sein Zimmer sprang und ihn erstach. Und ihre Antwort auf die Frage, was sie unter solchen Umständen hier halte, mitten im Palästinensischen Autonomiegebiet, lautet schlicht: Das sei doch ihre Stadt, noch dazu die den Juden heiligste gemeinsam mit Jerusalem. Eine heiligste Stadt in einem heiligen Land, in dem den Einwohnern, welcher Konfession immer, wenig heilig zu sein scheint, am womöglich wenigsten anderer Menschen Leben.

Vom Museum ein paar Schritte die Anhöhe hinunter liegt jener Checkpoint, an dem am 24. März des Vorjahrs Abdel Fattah al-Sharif zu Tode kam: Gemeinsam mit einem zweiten Palästinenser hatte er einen israelischen Soldaten mit dem Messer attackiert, war kampfunfähig geschossen worden, lag auf dem Boden. Ein israelischer Sanitätssoldat trat auf den Regungslosen zu und tötete ihn durch einen Kopfschuss. Eine Exekution, dokumentiert auf Video. Der Prozess gegen den Täter endete im heurigen Jänner mit einer Verurteilung: wegen Totschlags. Das Strafmaß: 18 Monate Haft. Viel zu viel den einen. Empörend wenig den anderen.

An dem Frühlingstag, an dem ich die Stelle passiere, spielen Kinder auf der leer gefegten Straße, rollen auf ihren Skateboards den Hang hinunter, hinein in das vormals angeblich so umtriebig gewesene Zentrum Hebrons, das heute verlassen daliegt, hinter den toten Fenstern, den verriegelten Toren nur Vergangenheit, keine Gegenwart. Und an die Zukunft will hier ohnehin keiner denken.

Das Wort „Mörder“ ist in die Metallplatte geprägt, die hinter dem Rathaus von Tel Aviv in den Steinboden eingelassen ist: jene Stelle bezeichnend, an der Jigal Amir stand, 25 Jahre alt, streng religiös, jüdischer Jus-Student, als er am 4. November 1995 Israels Premier Jitzhak Rabin mit zwei Schüssen tötete. Rabin hatte auf einer Kundgebung zur Unterstützung des von ihm mitinitiierten Friedensprozesses teilgenommen. Und was vielen damals ein Segen schien, das Oslo-Abkommen des Jahres 1993, die Zwei-Staaten-Regelung, war anderen, nicht nur Jigal Amir, ein tötungswürdiges Verbrechen: „Schon Monate zuvor waren in der Öffentlichkeit die ersten Poster aufgetaucht, die Jitzhak als Verräter und Mörder brandmarkten“, erinnerte sich Rabins Frau Leah später in ihren Memoiren.

Und heute, mehr als 20 Jahre danach? Dass kein Krieg noch lang nicht Frieden ist, darüber wird sich leicht Einigkeit erzielen lassen. Doch was weiter?

Als am 14. Mai 1948 David Ben-Gurion Israels Unabhängigkeitserklärung verlas, im alten Kunstmuseum am Rothschild-Boulevard von Tel Aviv, da hing hinter ihm an der Wand, groß und fast übermächtig, ein Porträt jenes Theodor Herzl, der mit dem „Judenstaat“ von Wien aus dem politischen Zionismus eine Richtung gab und in seinem Roman „Altneuland“ die dazugehörige Utopie einer jüdischen Gesellschaftsordnung in Palästina formulierte. Herzls Porträt hängt noch immer in dem Gebäude, mittlerweile längst zur „Halle der Unabhängigkeit“ geadelt. Und wo Herzl, da ist auch jener Satz nicht weit, den er „Altneuland“ vorangestellt hat: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“

Kein Märchen, sondern Wirklichkeit ist jedenfalls die Stadt, die nach „Altneuland“ benannt ist: Tel Aviv. Und wie viel Märchenhaftes allein ihre Existenz schon an sich trägt, lässt jene Fotografie ahnen, die ihre Gründung zeigt: Meir Dizengoff, der erste Bürgermeister, umringt von einer Mitstreiter-Schar – und rund um sie das schiere Wüsten-Nichts dort, wo sich heute eine impulsive Halb-Millionen-Metropole erhebt, Urbanität vom Reißbrett, wie sie sich, über Jahrhunderte gewachsen, nicht lebendiger denken ließe.

Das Märchen Israel freilich, das ist auch mehr als 100 Jahre nach Herzls Tod noch lang nicht Wirklichkeit. Wille allein mag da nicht genügen, gut möglich, dass es Wunder braucht. Doch wo, wenn nicht im Gelobten Land, wären Wunder sonst zu Haus?

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 27. Mai 2017

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